All diese Sänger bekennen also, daß ihnen "ein Gott gab, zu sagen", pwo_031.002 was sie empfinden.
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Nicht anders setzt die Edda ein. "Der Seherin Weissagung" lautet:
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"Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern,pwo_031.005 Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern;pwo_031.006 Walvater wünscht es, so will ich erzählenpwo_031.007 Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung."
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"Der Seherin Weissagung"! Wie in den Propheten des alten Bundes pwo_031.009 sehen wir die Seher- und Sängergabe als eins und ungetrennt: pwo_031.010 Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist pwo_031.011 für die griechische Poesie die Existenz religiöser Lieder weit vor der pwo_031.012 Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt pwo_031.013 Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: "Die pwo_031.014 Deutschen feiern in alten Liedern Tuisko, den erdentsproßnen Gott, pwo_031.015 und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Begründer ihres pwo_031.016 Geschlechtes."
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Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint pwo_031.018 die Art, in welcher die ältesten Sagen die Entstehung der Poesie pwo_031.019 erzählen. Auch hier wird sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt. pwo_031.020 Nicht eben geschmackvoll, doch im Kern unzweideutig berichtet die sogenannte pwo_031.021 Snorra Edda:
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"Aegir fragte: ,Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' pwo_031.023 Bragi antwortete: ,Die Götter hatten eine Fehde mit den pwo_031.024 Wanen, kamen aber schließlich zusammen, um Frieden zu pwo_031.025 schließen. Sie gingen zu einem Gefäß und spieen ihren Speichel pwo_031.026 hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i. pwo_031.027 wohl der Flüsterer) heißt. Dieser wußte für alle Dinge Rat. pwo_031.028 Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h. pwo_031.029 Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen pwo_031.030 Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein pwo_031.031 Blut in zwei Krüge und einen Kessel rinnen. Danach mischten pwo_031.032 sie das Blut mit Honig, und diese Flüssigkeit heißt seitdem pwo_031.033 Met, und jeder, der davon trinkt, wird ein Dichter und pwo_031.034 ein Weiser. Ueber Kwasir aber verbreiteten die Zwerge das pwo_031.035 Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand
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All diese Sänger bekennen also, daß ihnen „ein Gott gab, zu sagen“, pwo_031.002 was sie empfinden.
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Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet:
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„Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern,pwo_031.005 Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern;pwo_031.006 Walvater wünscht es, so will ich erzählenpwo_031.007 Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“
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„Der Seherin Weissagung“! Wie in den Propheten des alten Bundes pwo_031.009 sehen wir die Seher- und Sängergabe als eins und ungetrennt: pwo_031.010 Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist pwo_031.011 für die griechische Poesie die Existenz religiöser Lieder weit vor der pwo_031.012 Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt pwo_031.013 Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: „Die pwo_031.014 Deutschen feiern in alten Liedern Tuisko, den erdentsproßnen Gott, pwo_031.015 und seinen Sohn Mannus als Stammväter und Begründer ihres pwo_031.016 Geschlechtes.“
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Bezeichnend, wenn auch natürlich nicht ausschlaggebend, erscheint pwo_031.018 die Art, in welcher die ältesten Sagen die Entstehung der Poesie pwo_031.019 erzählen. Auch hier wird sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt. pwo_031.020 Nicht eben geschmackvoll, doch im Kern unzweideutig berichtet die sogenannte pwo_031.021 Snorra Edda:
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„Aegir fragte: ‚Welches ist der Ursprung der Dichtkunst?' pwo_031.023 Bragi antwortete: ‚Die Götter hatten eine Fehde mit den pwo_031.024 Wanen, kamen aber schließlich zusammen, um Frieden zu pwo_031.025 schließen. Sie gingen zu einem Gefäß und spieen ihren Speichel pwo_031.026 hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i. pwo_031.027 wohl der Flüsterer) heißt. Dieser wußte für alle Dinge Rat. pwo_031.028 Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h. pwo_031.029 Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen pwo_031.030 Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein pwo_031.031 Blut in zwei Krüge und einen Kessel rinnen. Danach mischten pwo_031.032 sie das Blut mit Honig, und diese Flüssigkeit heißt seitdem pwo_031.033 Met, und jeder, der davon trinkt, wird ein Dichter und pwo_031.034 ein Weiser. Ueber Kwasir aber verbreiteten die Zwerge das pwo_031.035 Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand
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Nicht anders setzt die Edda ein. „Der Seherin Weissagung“ lautet:
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„Jch heische Gehör von den heil'gen Geschlechtern, pwo_031.005
Von Heimdalls Kindern, den hohen und niedern; pwo_031.006
Walvater wünscht es, so will ich erzählen pwo_031.007
Der Vorzeit Geschichten aus früh'ster Erinn'rung.“
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Religion und Poesie war noch eins und ungetrennt. Desgleichen ist pwo_031.011
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Homerischen Zeit gesichert. Unter den deutschen Gesängen bezeugt pwo_031.013
Tacitus ausdrücklich in erster Linie Verherrlichungen der Götter: „Die pwo_031.014
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hinein und schufen aus diesem einen Mann, der Kwasir (d. i. pwo_031.027
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Als er aber einmal zu den Zwergen Fjalar und Galar (d. h. pwo_031.029
Späher und Sänger) kam, lockten ihn diese zu einer heimlichen pwo_031.030
Unterredung und töteten ihn. Darauf ließen sie sein pwo_031.031
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Gerücht, daß er an seiner eignen Weisheit erstickt sei, da niemand
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