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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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vorbeizugehen, läßt die äußere, materielle Erscheinung einseitig pwo_008.002
in den Vordergrund treten und den geistigen Prozeß in der Dichterseele pwo_008.003
dahinter verschwinden. Wo möglichst nur das, was mit Händen pwo_008.004
greifbar, als Erfahrungsmaterial anerkannt ist, wird naturgemäß für pwo_008.005
das innere Wesen der Dichtung leicht die äußere Erscheinungsform pwo_008.006
hingenommen.

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Dieses selbe Streben, statt an den Geist sich möglichst weit an pwo_008.008
die Natur zu halten, läßt Scherer über den Rahmen der philosophischen pwo_008.009
und selbst der litteraturgeschichtlichen Erfahrung nach rein naturgeschichtlichen pwo_008.010
Beobachtungen blicken, die namentlich für die Entstehnng pwo_008.011
der Poesie zur Verwertung kommen. Eine solche unmittelbare Uebertragung pwo_008.012
tierischer Funktionen (wie der Liebeslockrufe als erster Form pwo_008.013
poetischer Aeußerungen) auf das Gebiet des menschlichen Geistes bleibt pwo_008.014
nun in jedem Falle materialistisch; für die Poesie ist dies Verfahren pwo_008.015
um so weniger statthaft, als von ihr nicht vor Entwicklung der artikulierten pwo_008.016
Sprache die Rede sein kann.

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Bei alledem bringt Scherers Versuch eine Fülle von fruchtbaren pwo_008.018
Einzelbemerkungen und glücklich herangezogenen litteraturgeschichtlichen pwo_008.019
Belegen bei. Daß nicht in noch umfassenderem Maße die Weltlitteratur pwo_008.020
zugrunde gelegt und so der naturwissenschaftliche und nationalökonomische pwo_008.021
Zug stärker zurückgedrängt ist, erklärt sich unschwer aus pwo_008.022
der Entstehung und dem jähen Abbruch des Werkes.

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§ 8. pwo_008.024
Psychologisch-induktive Poetik.
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Ungefähr gleichzeitig mit Scherers unphilosophischer Poetik gab pwo_008.026
Wilhelm Dilthey Bausteine für eine neue Poetik durch seine Abhandlung pwo_008.027
über "Die Einbildungskraft des Dichters" (1887 in dem pwo_008.028
Eduard Zeller gewidmeten Sammelwerk verschiedener Autoren: "Philosophische pwo_008.029
Aufsätze").

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Auch hier wird der Ruf nach einer induktiven Poetik erhoben, pwo_008.031
und Dilthey stützt sich im Prinzip auf das richtige, allein mögliche pwo_008.032
Material der Erfahrung über die Litteratur: d. i. die Litteraturgeschichte, pwo_008.033
ohne aus der Naturgeschichte hypothetische Analogien zu pwo_008.034
übertragen. Als Philosoph vergißt Dilthey ebenso wenig, daß die pwo_008.035
Aesthetik Kunstphilosophie ist.

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  Dieses selbe Streben, statt an den Geist sich möglichst weit an pwo_008.008
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Einzelbemerkungen und glücklich herangezogenen litteraturgeschichtlichen pwo_008.019
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Zug stärker zurückgedrängt ist, erklärt sich unschwer aus pwo_008.022
der Entstehung und dem jähen Abbruch des Werkes.

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Psychologisch-induktive Poetik.
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  Ungefähr gleichzeitig mit Scherers unphilosophischer Poetik gab pwo_008.026
Wilhelm Dilthey Bausteine für eine neue Poetik durch seine Abhandlung pwo_008.027
über „Die Einbildungskraft des Dichters“ (1887 in dem pwo_008.028
Eduard Zeller gewidmeten Sammelwerk verschiedener Autoren: „Philosophische pwo_008.029
Aufsätze“).

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  Auch hier wird der Ruf nach einer induktiven Poetik erhoben, pwo_008.031
und Dilthey stützt sich im Prinzip auf das richtige, allein mögliche pwo_008.032
Material der Erfahrung über die Litteratur: d. i. die Litteraturgeschichte, pwo_008.033
ohne aus der Naturgeschichte hypothetische Analogien zu pwo_008.034
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/22>, abgerufen am 29.03.2024.