pwo_007.001 hinter der Kunst ab, ohne ernstlich nach der geschichtlichen Priorität pwo_007.002 zu fragen und damit den Entstehungsprozeß der Poesie geschichtlich pwo_007.003 zu belauschen.
pwo_007.004
§ 7. pwo_007.005 Empirische Poetik.
pwo_007.006
Mit der Ausdehnung und den Erfolgen der Einzelforschung sah pwo_007.007 sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr pwo_007.008 auf einen induktiven d. i. aus der Erfahrung ableitenden Betrieb pwo_007.009 hingedrängt. Von dem Zug der modernen Naturwissenschaft, aus pwo_007.010 umfassender Beobachtung des Einzelmaterials durchgehende Gesetze abzuleiten, pwo_007.011 wurde auch die Geisteswissenschaft ergriffen. Auf verschiedenen pwo_007.012 Gebieten verfügt sie thatsächlich bereits über ein genügend pwo_007.013 reiches Erfahrungsmaterial, daß es sich selbst eine Binde vor die pwo_007.014 Augen legen hieße, wenn die Philosophie, und so auch die Kunstphilosophie, pwo_007.015 noch länger allein nach allgemeinen Kategorien von außen pwo_007.016 her an ihre Gegenstände heranträte.
pwo_007.017
Für die Poetik war die neue Aufgabe: statt aus der Jdee eines pwo_007.018 Einzelgeistes deduktiv Gesetze zu formulieren und diese durch Beispiele pwo_007.019 zu belegen, vielmehr umgekehrt Beispiele poetischer Bethätigung in pwo_007.020 möglichst großer Zahl zu sammeln, um aus ihrer systematischen Ordnung pwo_007.021 die Gesetze abzuleiten.
pwo_007.022
Einen Versuch zur Erfüllung dieser Forderung unternahm Wilhelm pwo_007.023 Scherer. Jm Sommer 1885 hielt er Universitätsvorlesungen pwo_007.024 über Poetik, ein Jahr darauf starb er. Das aus seinem Nachlaß pwo_007.025 herausgegebene Manuskript der Vorlesungen will somit nicht als abgeschlossenes pwo_007.026 System, sondern nur als Entwurf beurteilt sein.
pwo_007.027
Scherer bezeichnet als sein Programm: "die dichterische Hervorbringung, pwo_007.028 die wirkliche und die mögliche, vollständig zu beschreiben in pwo_007.029 ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen". Eine pwo_007.030 Poetik, die sich derart grundsätzlich auf Beschreibung des Materials pwo_007.031 beschränkt, würde - wie von vorn herein einleuchtet - rein empirisch pwo_007.032 bleiben, nur die Erfahrung geben, ohne sie zu erklären, geistig pwo_007.033 zu durchdringen. Jn einem an sich berechtigten Eifer, vorschnelle pwo_007.034 Folgerungen abzuwehren, will sich Scherer denn auch philosophischer pwo_007.035 Schlußfassung möglichst entschlagen. Dieses Streben, an der Philosophie
pwo_007.001 hinter der Kunst ab, ohne ernstlich nach der geschichtlichen Priorität pwo_007.002 zu fragen und damit den Entstehungsprozeß der Poesie geschichtlich pwo_007.003 zu belauschen.
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§ 7. pwo_007.005 Empirische Poetik.
pwo_007.006
Mit der Ausdehnung und den Erfolgen der Einzelforschung sah pwo_007.007 sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr pwo_007.008 auf einen induktiven d. i. aus der Erfahrung ableitenden Betrieb pwo_007.009 hingedrängt. Von dem Zug der modernen Naturwissenschaft, aus pwo_007.010 umfassender Beobachtung des Einzelmaterials durchgehende Gesetze abzuleiten, pwo_007.011 wurde auch die Geisteswissenschaft ergriffen. Auf verschiedenen pwo_007.012 Gebieten verfügt sie thatsächlich bereits über ein genügend pwo_007.013 reiches Erfahrungsmaterial, daß es sich selbst eine Binde vor die pwo_007.014 Augen legen hieße, wenn die Philosophie, und so auch die Kunstphilosophie, pwo_007.015 noch länger allein nach allgemeinen Kategorien von außen pwo_007.016 her an ihre Gegenstände heranträte.
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Für die Poetik war die neue Aufgabe: statt aus der Jdee eines pwo_007.018 Einzelgeistes deduktiv Gesetze zu formulieren und diese durch Beispiele pwo_007.019 zu belegen, vielmehr umgekehrt Beispiele poetischer Bethätigung in pwo_007.020 möglichst großer Zahl zu sammeln, um aus ihrer systematischen Ordnung pwo_007.021 die Gesetze abzuleiten.
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Einen Versuch zur Erfüllung dieser Forderung unternahm Wilhelm pwo_007.023 Scherer. Jm Sommer 1885 hielt er Universitätsvorlesungen pwo_007.024 über Poetik, ein Jahr darauf starb er. Das aus seinem Nachlaß pwo_007.025 herausgegebene Manuskript der Vorlesungen will somit nicht als abgeschlossenes pwo_007.026 System, sondern nur als Entwurf beurteilt sein.
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Scherer bezeichnet als sein Programm: „die dichterische Hervorbringung, pwo_007.028 die wirkliche und die mögliche, vollständig zu beschreiben in pwo_007.029 ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen“. Eine pwo_007.030 Poetik, die sich derart grundsätzlich auf Beschreibung des Materials pwo_007.031 beschränkt, würde – wie von vorn herein einleuchtet – rein empirisch pwo_007.032 bleiben, nur die Erfahrung geben, ohne sie zu erklären, geistig pwo_007.033 zu durchdringen. Jn einem an sich berechtigten Eifer, vorschnelle pwo_007.034 Folgerungen abzuwehren, will sich Scherer denn auch philosophischer pwo_007.035 Schlußfassung möglichst entschlagen. Dieses Streben, an der Philosophie
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zu fragen und damit den Entstehungsprozeß der Poesie geschichtlich pwo_007.003
zu belauschen.
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sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr pwo_007.008
auf einen induktiven d. i. aus der Erfahrung ableitenden Betrieb pwo_007.009
hingedrängt. Von dem Zug der modernen Naturwissenschaft, aus pwo_007.010
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wurde auch die Geisteswissenschaft ergriffen. Auf verschiedenen pwo_007.012
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reiches Erfahrungsmaterial, daß es sich selbst eine Binde vor die pwo_007.014
Augen legen hieße, wenn die Philosophie, und so auch die Kunstphilosophie, pwo_007.015
noch länger allein nach allgemeinen Kategorien von außen pwo_007.016
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Für die Poetik war die neue Aufgabe: statt aus der Jdee eines pwo_007.018
Einzelgeistes deduktiv Gesetze zu formulieren und diese durch Beispiele pwo_007.019
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Einen Versuch zur Erfüllung dieser Forderung unternahm Wilhelm pwo_007.023
Scherer. Jm Sommer 1885 hielt er Universitätsvorlesungen pwo_007.024
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herausgegebene Manuskript der Vorlesungen will somit nicht als abgeschlossenes pwo_007.026
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pwo_007.027
Scherer bezeichnet als sein Programm: „die dichterische Hervorbringung, pwo_007.028
die wirkliche und die mögliche, vollständig zu beschreiben in pwo_007.029
ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen“. Eine pwo_007.030
Poetik, die sich derart grundsätzlich auf Beschreibung des Materials pwo_007.031
beschränkt, würde – wie von vorn herein einleuchtet – rein empirisch pwo_007.032
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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/21>, abgerufen am 16.02.2025.
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