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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Es ist klar, daß einer solchen Vollendung eine lange Entwicklung pwo_130.002
vorausgegangen sein muß; und diese haben wir eben in der vorlitterarischen pwo_130.003
Lyrik zu suchen. Für die jambische Poesie sind solche Vorläufer pwo_130.004
in skoptischen Liedern zu sehen.

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Auch die melische Poesie, die zunächst unter den Doriern erwuchs, pwo_130.006
fand in den choralartigen delphischen Kultusliedern ein wirksames pwo_130.007
Vorbild. Nur hat sie Terpander, der Begründer des Melos, pwo_130.008
umfangreicher gestaltet und kunstreicher gegliedert. Während Terpander pwo_130.009
noch in religiösem Gehalt verharrt, wendet Alkman die schon pwo_130.010
formell abwechslungsreiche Gattung auf weltliche Stoffe. Jn welchem pwo_130.011
Maße die lyrischen Chorlieder epische Elemente bewahren, tritt noch pwo_130.012
an Pindars Dichtung unverkennbar hervor, deren Schwergewicht auf pwo_130.013
mythologischen Einlagen ruht. Aber auch der für den Einzelvortrag pwo_130.014
bestimmte Nomos erzählte in seinem Hauptteil ursprünglich einen pwo_130.015
Mythos, um das Lob des Gottes zu begründen. Jn den übrigen pwo_130.016
Teilen gestattete das abwechslungsreiche Versmaß ein um so kunstvolleres pwo_130.017
Spielen lyrischer Gefühle. Ebenso behalten die Chorlieder pwo_130.018
des Alkman einen mythischen oder sagenhaften Teil bei, wie er denn pwo_130.019
in einem Jungfrauenlied die Begegnung des Odysseus mit Nausikaa pwo_130.020
erzählt. Mit diesem objektiven Abschnitt verknüpft sich ein subjektiver pwo_130.021
von einem gewissen individuellen Charakter, ja mit direkten Selbstgeständnissen. pwo_130.022
Genug, der Zusammenhang epischer und lyrischer Momente pwo_130.023
bezeichnet allerorten den Uebergang.

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Jn der weitern Entwicklung der griechischen Lyrik tritt als pwo_130.025
Elegiker unter den Doriern Tyrtäos auf. Seine Elegien verherrlichen, pwo_130.026
woran sich ja der Ruhm seines Namens knüpft, den Tod fürs pwo_130.027
Vaterland. Anschaulich weiß seine Phantasie die Schlachtscenen zu pwo_130.028
zeichnen, und ihr wesentlicher Unterschied von epischer Erzählung besteht pwo_130.029
eigentlich nur in der optativen Wendung auf die Zukunft:

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"Schreite denn jeder beherzt vorwärts, in den Boden die Füße pwo_130.031
Fest eindrückend, die Zähn' über die Lippen geklemmt, pwo_130.032
Brust und Schulter zumal und hinabwärts Hüften und Schenkel pwo_130.033
Hinter des mächtigen Schilds eherner Wölbung gedeckt. pwo_130.034
Hochher schwing' er zum Wurf in der Rechten die wuchtige Lanze pwo_130.035
Und Furcht weckend vom Haupt flattre der Busch ihm herab ... pwo_130.036
Also die starrenden Reih'n andringender Feindesgeschwader pwo_130.037
Wirft er zurück und dämmt mächtig die Woge der Schlacht."
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vorausgegangen sein muß; und diese haben wir eben in der vorlitterarischen pwo_130.003
Lyrik zu suchen. Für die jambische Poesie sind solche Vorläufer pwo_130.004
in skoptischen Liedern zu sehen.

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  Auch die melische Poesie, die zunächst unter den Doriern erwuchs, pwo_130.006
fand in den choralartigen delphischen Kultusliedern ein wirksames pwo_130.007
Vorbild. Nur hat sie Terpander, der Begründer des Melos, pwo_130.008
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Mythos, um das Lob des Gottes zu begründen. Jn den übrigen pwo_130.016
Teilen gestattete das abwechslungsreiche Versmaß ein um so kunstvolleres pwo_130.017
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Elegiker unter den Doriern Tyrtäos auf. Seine Elegien verherrlichen, pwo_130.026
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Vaterland. Anschaulich weiß seine Phantasie die Schlachtscenen zu pwo_130.028
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„Schreite denn jeder beherzt vorwärts, in den Boden die Füße pwo_130.031
Fest eindrückend, die Zähn' über die Lippen geklemmt, pwo_130.032
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Und Furcht weckend vom Haupt flattre der Busch ihm herab ... pwo_130.036
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/144>, abgerufen am 06.05.2024.