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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Wiederholung von Worten und ganzen Wendungen dehnt sich in pwo_125.002
Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Stil des epischen Liedes pwo_125.003
weit aus, arbeitet daneben aber schon eine eigenartige Form in Ansätzen pwo_125.004
zum Refrän heraus. Entgegentrat uns in dieser Funktion pwo_125.005
bereits die Klage:

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"Jch suchte, aber ich fand ihn nicht."

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Entsprechend den wechselnden Stimmungen, die das ausgedehnte Hohelied pwo_125.008
spiegelt, ist nicht sowohl ein Motiv dieser Art einheitlich durchgeführt, pwo_125.009
als vielmehr eine Fülle von Motiven durchschlungen. An pwo_125.010
einer andern Stelle begegnet demgemäß der Anruf:

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"Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komme her!"

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Und zwar hebt der Freund also an, begründet die Lockung alsbald pwo_125.013
mit dem Erwachen des Lenzes, um daran unter einer gelinden formellen pwo_125.014
Erweiterung nochmals den Anruf zu schließen:

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"Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, pwo_125.016
komm her!"

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Dieselbe Figur begegnet weiterhin: ein Motiv klingt an, wird ausgeführt pwo_125.018
und klingt wieder. So:

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"Siehe, meine Freundin, du bist schön, siehe, schön bist du."

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Es folgt die Ausmalung dieser Schönheit, mit dem Abschluß:

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"Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken pwo_125.022
an dir."

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Diese Empfindung tritt damit recht ersichtlich als A und O der Partie pwo_125.024
hervor.

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Noch liegt überall die kräftigste, sinnfälligste Gestaltung zugrunde; pwo_125.026
die allegorische Ausdeutung greift erst in einem durchgeistigteren Zeitalter pwo_125.027
platz.

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Die zunehmende Vergeistigung bekundet sich litterarisch in den pwo_125.029
Büchern der Propheten. Ganz unverkennbar schlägt der überwiegend pwo_125.030
lyrische Charakter durch. Trotzdem noch immer das Lied gern plastische pwo_125.031
Einzelbilder sucht, hat doch die Abstraktion, die rein seelische pwo_125.032
Versenkung, dem Gestaltenlosen nahegeführt:

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"Wir haben eine feste Stadt, Mauern und Wehre sind Heil.

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„Du bist allerding schön, meine Freundin, und ist kein Flecken pwo_125.022
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/139>, abgerufen am 07.05.2024.