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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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treffender Richtung bewegt: er verwendet Jdyll als Gesamtbezeichnung pwo_116.002
für diejenige sentimentalische Dichtung, welche die Natur, zu der sie pwo_116.003
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Wesen und Wandlungen der epischen Dichtung.
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Erst jetzt werden wir in der Lage sein, den Grundzug und die pwo_116.007
Variationen der epischen Entwicklung zusammenfassend zu überschauen.

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eingeführte Name Epos - Wort, Rede - bezeichnet pwo_116.010
allgemein die zunächst allein ausgebildete dichterische Gattung. pwo_116.011
Was wir als Grundzug solcher ältesten Poesie fast allerorten klar erkennen, pwo_116.012
was jedenfalls das Wesen der in Griechenland als episch bezeichneten pwo_116.013
wie der anderwärts entsprechenden Poesie ausmacht, ist pwo_116.014
Erzählung. Nicht nur die nationale Geschichte, wie in der Blüte pwo_116.015
der epischen Gattung, wird erzählt: gleich anfangs setzt der Mythos pwo_116.016
die unmittelbare, dauernde Anschauung der Natur singularisierend in pwo_116.017
entwickelnde Erzählung einmal geschehener Begebenheiten um, und noch pwo_116.018
das allegorische Epos kleidet seine Jdeen in den Schein von Geschehnissen, pwo_116.019
über die es zu berichten gelte.

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Die erzählten Begebenheiten bestehen zunächst in den Thaten pwo_116.021
der Götter, die wie Stammesheroen angesehen werden, dann in den pwo_116.022
Thaten der Helden; noch das Jdyll entfaltet das Thun und Treiben pwo_116.023
seiner kleinen Welt, deren Gestalten ihm als Muster naturgemäßen, pwo_116.024
glückseligen Lebens erscheinen; auch das reflektierende Epos, weiterhin pwo_116.025
der Roman und selbst die Novelle bewahren noch mindestens als pwo_116.026
Grundlage oder Kanevas die Handlungen besonderer, einer vorzüglichen pwo_116.027
Teilnahme würdiger Personen.

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Die Zeit, in welche die epische Dichtung uns versetzt, ist die pwo_116.029
Vergangenheit. Das bekundet sich nicht nur durch den geschichtlichen pwo_116.030
Kern des Epos in seiner Blütezeit, wird wiederum gerade auch pwo_116.031
an den beiden Extremen der epischen Entwicklung augenscheinlich: die pwo_116.032
Thaten der Götter, die sich dem Dichter immer gegenwärtig offenbaren, pwo_116.033
werden ausdrücklich in die Vergangenheit, wie bereits betont, pwo_116.034
als einmal geschehen, zurückverlegt; entsprechend verfährt der Zeitroman,

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  Die Zeit, in welche die epische Dichtung uns versetzt, ist die pwo_116.029
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/130>, abgerufen am 06.05.2024.