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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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dieser Dichtungen: der naive, rein darstellende Stil Goethes blieb in pwo_115.002
der Ballade ebenso maßgebend wie der sentimentalische, ethisch zugespitzte pwo_115.003
Schillers für die Romanze.

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Kleine poetische Erzählungen finden wir in Deutschland wie pwo_115.005
namentlich in Frankreich auch als Fabeln bezeichnet. Durchgedrungen pwo_115.006
ist dieser Name vorherrschend für solche Erzählungen, die, gleichviel pwo_115.007
ob in Vers oder Prosa, das Tierreich, nächstdem auch andere pwo_115.008
Regionen unter menschlichem Bilde betrachten. Schließlich spitzte sich pwo_115.009
diese ursprünglich durchaus naive Gattung völlig didaktisch zu und pwo_115.010
betrachtet, mit durch Lessings Eingreifen, die fremde Welt ausschließlich pwo_115.011
als moralische Folie für menschliches Thun und Treiben. - Als pwo_115.012
weiteres Mittel zum Vergleich tritt die Parabel auf, deren Parallelen pwo_115.013
nicht mehr in einer niedern, sondern innerhalb der menschlichen pwo_115.014
oder einer höheren Sphäre liegen; unter zunehmender Abstraktion pwo_115.015
wird auch das rein geistige Gebiet als Vergleichsobjekt mit menschlichen pwo_115.016
Handlungen zugelassen.

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Verhältnismäßig jung in Deutschland und ebenfalls erst nach pwo_115.018
fremdem Vorbild eingeführt ist von epischen Arten, die nicht an die pwo_115.019
Ausdehnung der Epopöe heranreichen, schließlich das Jdyll. Jn der pwo_115.020
griechischen Litteratur galt das eidullion, wörtlich Bildchen, Kleinbild, pwo_115.021
als Bezeichnung für Dichtungen, die bald nach Beginn des Alexandrinischen pwo_115.022
Zeitalters kurze, oft mit Dialog durchflochtene Erzählungen pwo_115.023
aus dem Kleinleben, besonders dem Landleben der Hirten, einführten. pwo_115.024
Dem deutschen Jdyll verblieb, auch wo es nicht direkt einen Theokrit pwo_115.025
in Stoff und Stil nachahmt, meist diese ländliche Welt. Das Behagen pwo_115.026
am Kleinleben, insbesondere das des Städters am ländlichen pwo_115.027
Leben, herrscht zunächst vor, bis ein Peter Hebel, alsdann vor allem pwo_115.028
Klaus Groth das Volk selbst mündig machen und frei von Reflexion pwo_115.029
wie von Sentimentalität naive Dorfgeschichten aus dem unmittelbaren pwo_115.030
Empfinden ihres Stammes heraus schaffen. Wie sie verwenden schon pwo_115.031
der Schöpfer der Gattung, Theokrit, und seine hervorragendsten griechischen pwo_115.032
Nachfolger die Mundart mit ihrem unmittelbaren Naturhauch.

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Was Schiller in seiner Terminologie von naiver und sentimentalischer pwo_115.034
Dichtung als Jdyll in Anspruch nimmt, giebt bewußt eine pwo_115.035
allgemeinere Klassifikation, die sich mit der geschichtlichen Ausbildung pwo_115.036
desselben nicht im engern Sinne deckt und dennoch prinzipiell sich in

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dieser Dichtungen: der naive, rein darstellende Stil Goethes blieb in pwo_115.002
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  Verhältnismäßig jung in Deutschland und ebenfalls erst nach pwo_115.018
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Leben, herrscht zunächst vor, bis ein Peter Hebel, alsdann vor allem pwo_115.028
Klaus Groth das Volk selbst mündig machen und frei von Reflexion pwo_115.029
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Empfinden ihres Stammes heraus schaffen. Wie sie verwenden schon pwo_115.031
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Dichtung als Jdyll in Anspruch nimmt, giebt bewußt eine pwo_115.035
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/129>, abgerufen am 06.05.2024.