Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.
I Theil. Viertes Capitel. Degen kann mit demjenigen, welchen die Figur der Ilias auf der Vergöt-terung des Homerus hält, einerley Bedeutung haben: denn die Ilias ent- hält die mehresten Vorstellungen zu Trauerspielen. Den Rücken wendet ihm eine Weibliche Figur, welche die rechte Schulter entblößt hat, und in gelb gekleidet ist 1); sie kniet mit dem rechten Beine vor einer Tragischen Larve, mit einem hohen Aufsatze von Haaren, ogkos genannt, und ist auf einem Gestelle, wie auf einer Base, gesetzet. Die Larve stehet wie in einem nicht tiefen Kasten, dessen Seitenbretter von unten bis oben zu aus- geschnitten sind, und es ist dieser Kasten, oder Futteral, mit blauem Tuche behänget, und von oben hängen weiße Binden herunter, an deren Enden zwo kurze Schnüre mit einem Knoten hängen. Oben an der Base, an welche die kniende Figur ihren Schatten wirft, schreibet sie mit einem Pinsel, vermuthlich den Namen einer Tragödie: man sieht aber nur an- gegebene Züge an statt der Buchstaben. Ich glaube, es sey die Tragische Muse Melpomene, sonderlich da die Figur als Jungfrau vorgestellet ist: denn es hat dieselbe die Haare auf dem Scheitel gebunden, welches, wie oben gesagt ist, nur allein bey unverheiratheten Mädgens in Gebrauch war. Hinter dem Gestelle und der Larve sieht man eine Männliche Figur, wel- che sich mit beyden Händen an einen Spieß stützet. Der Tragicus hat sein Gesicht nach der schreibenden Muse gekehret. Das dritte Gemälde bestehet aus zwo nackten Männlichen Figuren ist 1) Barnes hat in Eurip. Phoeniss. v. 1498. solida krokoessan, Stolam simbriatam
übersetzet, als wenn er gezweifelt hätte, ob die Alten gelbe Kleider getragen. I Theil. Viertes Capitel. Degen kann mit demjenigen, welchen die Figur der Ilias auf der Vergoͤt-terung des Homerus haͤlt, einerley Bedeutung haben: denn die Ilias ent- haͤlt die mehreſten Vorſtellungen zu Trauerſpielen. Den Ruͤcken wendet ihm eine Weibliche Figur, welche die rechte Schulter entbloͤßt hat, und in gelb gekleidet iſt 1); ſie kniet mit dem rechten Beine vor einer Tragiſchen Larve, mit einem hohen Aufſatze von Haaren, ὄγκος genannt, und iſt auf einem Geſtelle, wie auf einer Baſe, geſetzet. Die Larve ſtehet wie in einem nicht tiefen Kaſten, deſſen Seitenbretter von unten bis oben zu aus- geſchnitten ſind, und es iſt dieſer Kaſten, oder Futteral, mit blauem Tuche behaͤnget, und von oben haͤngen weiße Binden herunter, an deren Enden zwo kurze Schnuͤre mit einem Knoten haͤngen. Oben an der Baſe, an welche die kniende Figur ihren Schatten wirft, ſchreibet ſie mit einem Pinſel, vermuthlich den Namen einer Tragoͤdie: man ſieht aber nur an- gegebene Zuͤge an ſtatt der Buchſtaben. Ich glaube, es ſey die Tragiſche Muſe Melpomene, ſonderlich da die Figur als Jungfrau vorgeſtellet iſt: denn es hat dieſelbe die Haare auf dem Scheitel gebunden, welches, wie oben geſagt iſt, nur allein bey unverheiratheten Maͤdgens in Gebrauch war. Hinter dem Geſtelle und der Larve ſieht man eine Maͤnnliche Figur, wel- che ſich mit beyden Haͤnden an einen Spieß ſtuͤtzet. Der Tragicus hat ſein Geſicht nach der ſchreibenden Muſe gekehret. Das dritte Gemaͤlde beſtehet aus zwo nackten Maͤnnlichen Figuren iſt 1) Barnes hat in Eurip. Phoeniſſ. v. 1498. ςολίδα κροκόεσσαν, Stolam ſimbriatam
uͤberſetzet, als wenn er gezweifelt haͤtte, ob die Alten gelbe Kleider getragen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0322" n="272"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi></fw><lb/> Degen kann mit demjenigen, welchen die Figur der Ilias auf der Vergoͤt-<lb/> terung des Homerus haͤlt, einerley Bedeutung haben: denn die Ilias ent-<lb/> haͤlt die mehreſten Vorſtellungen zu Trauerſpielen. Den Ruͤcken wendet<lb/> ihm eine Weibliche Figur, welche die rechte Schulter entbloͤßt hat, und<lb/> in gelb gekleidet iſt <note place="foot" n="1)">Barnes hat in <hi rendition="#aq">Eurip. Phoeniſſ. v.</hi> 1498. ςολίδα κροκόεσσαν, <hi rendition="#aq">Stolam ſimbriatam</hi><lb/> uͤberſetzet, als wenn er gezweifelt haͤtte, ob die Alten gelbe Kleider getragen.</note>; ſie kniet mit dem rechten Beine vor einer Tragiſchen<lb/> Larve, mit einem hohen Aufſatze von Haaren, ὄγκος genannt, und iſt<lb/> auf einem Geſtelle, wie auf einer Baſe, geſetzet. Die Larve ſtehet wie in<lb/> einem nicht tiefen Kaſten, deſſen Seitenbretter von unten bis oben zu aus-<lb/> geſchnitten ſind, und es iſt dieſer Kaſten, oder Futteral, mit blauem Tuche<lb/> behaͤnget, und von oben haͤngen weiße Binden herunter, an deren Enden<lb/> zwo kurze Schnuͤre mit einem Knoten haͤngen. Oben an der Baſe, an<lb/> welche die kniende Figur ihren Schatten wirft, ſchreibet ſie mit einem<lb/> Pinſel, vermuthlich den Namen einer Tragoͤdie: man ſieht aber nur an-<lb/> gegebene Zuͤge an ſtatt der Buchſtaben. Ich glaube, es ſey die Tragiſche<lb/> Muſe Melpomene, ſonderlich da die Figur als Jungfrau vorgeſtellet iſt:<lb/> denn es hat dieſelbe die Haare auf dem Scheitel gebunden, welches, wie<lb/> oben geſagt iſt, nur allein bey unverheiratheten Maͤdgens in Gebrauch war.<lb/> Hinter dem Geſtelle und der Larve ſieht man eine Maͤnnliche Figur, wel-<lb/> che ſich mit beyden Haͤnden an einen Spieß ſtuͤtzet. Der Tragicus hat<lb/> ſein Geſicht nach der ſchreibenden Muſe gekehret.</p><lb/> <p>Das dritte Gemaͤlde beſtehet aus zwo nackten Maͤnnlichen Figuren<lb/> mit einem Pferde. Die eine ſitzet, und iſt vorwerts gekehret, jung und<lb/> voll Feuer und Kuͤhnheit im Geſichte, und voll Aufmerkſamkeit auf die Rede<lb/> der andern Figur; es ſcheinet Achilles zu ſeyn. Das Geſaͤß ſeines Stuhls<lb/> iſt mit blutrothem Tuche, oder mit Purpur, belegt, welches zugleich auf<lb/> den rechten Schenkel geworfen iſt, wo die rechte Hand ruhet: roth iſt auch<lb/> der Mantel, welcher ihm hinterwerts herunter haͤnget. Die rothe Farbe<lb/> <fw place="bottom" type="catch">iſt</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [272/0322]
I Theil. Viertes Capitel.
Degen kann mit demjenigen, welchen die Figur der Ilias auf der Vergoͤt-
terung des Homerus haͤlt, einerley Bedeutung haben: denn die Ilias ent-
haͤlt die mehreſten Vorſtellungen zu Trauerſpielen. Den Ruͤcken wendet
ihm eine Weibliche Figur, welche die rechte Schulter entbloͤßt hat, und
in gelb gekleidet iſt 1); ſie kniet mit dem rechten Beine vor einer Tragiſchen
Larve, mit einem hohen Aufſatze von Haaren, ὄγκος genannt, und iſt
auf einem Geſtelle, wie auf einer Baſe, geſetzet. Die Larve ſtehet wie in
einem nicht tiefen Kaſten, deſſen Seitenbretter von unten bis oben zu aus-
geſchnitten ſind, und es iſt dieſer Kaſten, oder Futteral, mit blauem Tuche
behaͤnget, und von oben haͤngen weiße Binden herunter, an deren Enden
zwo kurze Schnuͤre mit einem Knoten haͤngen. Oben an der Baſe, an
welche die kniende Figur ihren Schatten wirft, ſchreibet ſie mit einem
Pinſel, vermuthlich den Namen einer Tragoͤdie: man ſieht aber nur an-
gegebene Zuͤge an ſtatt der Buchſtaben. Ich glaube, es ſey die Tragiſche
Muſe Melpomene, ſonderlich da die Figur als Jungfrau vorgeſtellet iſt:
denn es hat dieſelbe die Haare auf dem Scheitel gebunden, welches, wie
oben geſagt iſt, nur allein bey unverheiratheten Maͤdgens in Gebrauch war.
Hinter dem Geſtelle und der Larve ſieht man eine Maͤnnliche Figur, wel-
che ſich mit beyden Haͤnden an einen Spieß ſtuͤtzet. Der Tragicus hat
ſein Geſicht nach der ſchreibenden Muſe gekehret.
Das dritte Gemaͤlde beſtehet aus zwo nackten Maͤnnlichen Figuren
mit einem Pferde. Die eine ſitzet, und iſt vorwerts gekehret, jung und
voll Feuer und Kuͤhnheit im Geſichte, und voll Aufmerkſamkeit auf die Rede
der andern Figur; es ſcheinet Achilles zu ſeyn. Das Geſaͤß ſeines Stuhls
iſt mit blutrothem Tuche, oder mit Purpur, belegt, welches zugleich auf
den rechten Schenkel geworfen iſt, wo die rechte Hand ruhet: roth iſt auch
der Mantel, welcher ihm hinterwerts herunter haͤnget. Die rothe Farbe
iſt
1) Barnes hat in Eurip. Phoeniſſ. v. 1498. ςολίδα κροκόεσσαν, Stolam ſimbriatam
uͤberſetzet, als wenn er gezweifelt haͤtte, ob die Alten gelbe Kleider getragen.
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| Zitationshilfe: | Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/322>, abgerufen am 16.07.2024. |
