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Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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sie schloß ihr Zimmer und zog den Schlüssel ab, flog den Gang hinab und über die Seitentreppe in den Park. Es war, als habe ihr Wille ihr Flügel verliehen, und unten im Park neben der Mauer, die ihn umschloß, begegnete sie dem Marquis.

Der Graf war auf sein Zimmer zurückgekehrt, er stellte das Licht auf den Tisch. -- Ich habe meine Schuldigkeit gethan, dachte er, aber ich bin müde -- sehr müde. O stille Ruhe, wann kommst du denn?

Er fuhr auf: ein Schrei -- ein entsetzlicher Schrei schlug aus dem Parke an sein Ohr. Er horchte, Alles war still. Er öffnete das Fenster und hörte nichts mehr. Ich muß mich getäuscht haben, dachte er. Doch ließ es ihm keine Ruhe, er ging zu Leonie's Zimmer und horchte an der Thüre, aber auch hier regte sich nichts. Er wollte öffnen, die Thüre war geschlossen. Sie wird allein sein wollen, sagte er sich und kehrte in sein Zimmer zurück.

Den folgenden Morgen in aller Frühe wurde laut und heftig an das Hauptthor des Schlosses gepocht. Ein Arbeiter hatte die Gräfin scheinbar leblos im Garten liegen gesehen. Die ganze Dienerschaft gerieth in Aufruhr. Man hob sie auf, ihre Kleider waren vom Thau der Nacht ganz durchnässt. Indessen war sie nicht todt, nicht einmal bewußtlos schien sie zu sein, denn sie stöhnte laut und unausgesetzt; aber gehen konnte sie nicht, und man trug sie in das Schloß. Die Thüre ihres Zimmers wurde erbrochen, sie mußte den Schlüssel von sich geschleudert haben, als sie dem Marquis begegnete, denn später fand man ihn an der Mauer des Parkes, und Niemand konnte sich erklären, wie er dahin gekommen war.

Der Graf eilte in großer Bestürzung herbei; ein Arzt wurde geholt; aber alle angewendeten Mittel blieben wirkungslos. Sie weinte nicht, es war ein inneres Stöhnen, dem keine Klage sich vergleichen ließ. Der Arzt schüttelte den Kopf und erklärte es für eine Nerven-

sie schloß ihr Zimmer und zog den Schlüssel ab, flog den Gang hinab und über die Seitentreppe in den Park. Es war, als habe ihr Wille ihr Flügel verliehen, und unten im Park neben der Mauer, die ihn umschloß, begegnete sie dem Marquis.

Der Graf war auf sein Zimmer zurückgekehrt, er stellte das Licht auf den Tisch. — Ich habe meine Schuldigkeit gethan, dachte er, aber ich bin müde — sehr müde. O stille Ruhe, wann kommst du denn?

Er fuhr auf: ein Schrei — ein entsetzlicher Schrei schlug aus dem Parke an sein Ohr. Er horchte, Alles war still. Er öffnete das Fenster und hörte nichts mehr. Ich muß mich getäuscht haben, dachte er. Doch ließ es ihm keine Ruhe, er ging zu Leonie's Zimmer und horchte an der Thüre, aber auch hier regte sich nichts. Er wollte öffnen, die Thüre war geschlossen. Sie wird allein sein wollen, sagte er sich und kehrte in sein Zimmer zurück.

Den folgenden Morgen in aller Frühe wurde laut und heftig an das Hauptthor des Schlosses gepocht. Ein Arbeiter hatte die Gräfin scheinbar leblos im Garten liegen gesehen. Die ganze Dienerschaft gerieth in Aufruhr. Man hob sie auf, ihre Kleider waren vom Thau der Nacht ganz durchnässt. Indessen war sie nicht todt, nicht einmal bewußtlos schien sie zu sein, denn sie stöhnte laut und unausgesetzt; aber gehen konnte sie nicht, und man trug sie in das Schloß. Die Thüre ihres Zimmers wurde erbrochen, sie mußte den Schlüssel von sich geschleudert haben, als sie dem Marquis begegnete, denn später fand man ihn an der Mauer des Parkes, und Niemand konnte sich erklären, wie er dahin gekommen war.

Der Graf eilte in großer Bestürzung herbei; ein Arzt wurde geholt; aber alle angewendeten Mittel blieben wirkungslos. Sie weinte nicht, es war ein inneres Stöhnen, dem keine Klage sich vergleichen ließ. Der Arzt schüttelte den Kopf und erklärte es für eine Nerven-

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[0208] sie schloß ihr Zimmer und zog den Schlüssel ab, flog den Gang hinab und über die Seitentreppe in den Park. Es war, als habe ihr Wille ihr Flügel verliehen, und unten im Park neben der Mauer, die ihn umschloß, begegnete sie dem Marquis. Der Graf war auf sein Zimmer zurückgekehrt, er stellte das Licht auf den Tisch. — Ich habe meine Schuldigkeit gethan, dachte er, aber ich bin müde — sehr müde. O stille Ruhe, wann kommst du denn? Er fuhr auf: ein Schrei — ein entsetzlicher Schrei schlug aus dem Parke an sein Ohr. Er horchte, Alles war still. Er öffnete das Fenster und hörte nichts mehr. Ich muß mich getäuscht haben, dachte er. Doch ließ es ihm keine Ruhe, er ging zu Leonie's Zimmer und horchte an der Thüre, aber auch hier regte sich nichts. Er wollte öffnen, die Thüre war geschlossen. Sie wird allein sein wollen, sagte er sich und kehrte in sein Zimmer zurück. Den folgenden Morgen in aller Frühe wurde laut und heftig an das Hauptthor des Schlosses gepocht. Ein Arbeiter hatte die Gräfin scheinbar leblos im Garten liegen gesehen. Die ganze Dienerschaft gerieth in Aufruhr. Man hob sie auf, ihre Kleider waren vom Thau der Nacht ganz durchnässt. Indessen war sie nicht todt, nicht einmal bewußtlos schien sie zu sein, denn sie stöhnte laut und unausgesetzt; aber gehen konnte sie nicht, und man trug sie in das Schloß. Die Thüre ihres Zimmers wurde erbrochen, sie mußte den Schlüssel von sich geschleudert haben, als sie dem Marquis begegnete, denn später fand man ihn an der Mauer des Parkes, und Niemand konnte sich erklären, wie er dahin gekommen war. Der Graf eilte in großer Bestürzung herbei; ein Arzt wurde geholt; aber alle angewendeten Mittel blieben wirkungslos. Sie weinte nicht, es war ein inneres Stöhnen, dem keine Klage sich vergleichen ließ. Der Arzt schüttelte den Kopf und erklärte es für eine Nerven-

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T13:30:48Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T13:30:48Z)

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Zitationshilfe: Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/208>, abgerufen am 23.11.2024.