Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.erschütterung. Zeit und vollkommene Ruhe seien das einzige Mittel, meinte er. Sie sträubte sich auch gegen nichts, aber ihr Zustand blieb unverändert. Sie lag mit geschlossenen Augen und schien Niemand zu erkennen. Ihr Mann riß sich von allen Geschäften los und eilte herbei als er die Nachricht von ihrer Krankheit erhielt. An dem Tage, da seine Ankunft erwartet wurde, verlangte sie zum ersten Male aufzustehen und ließ sich ankleiden, dann setzte sie sich und wartete. Er kam, böser Ahnungen voll, denn alle ihre Befürchtungen vor seiner Abreise waren ihm eingefallen, aber dennoch übertraf das, was er fand, seine schlimmsten Voraussetzungen bei weitem, und er schlug die Hände schmerzvoll zusammen vor dem bleichen, schattengleichen Abbild seiner jungen, vor Kurzem so blühend frischen Frau. Bei seinem Eintritt hatte sie sich erhoben; sie ging ihm entgegen und sank schweigend an seine Brust. Das schöne Haar, mit dem er so gerne gespielt, hatte man ihr abschneiden müssen, sie sah jünger aus, und fast ganz wie ein Kind. Leonie! rief er in tiefen Schmerz, sie innig an seine Brust schließend und ihr in die Augen sehend. O, was haben sie aus dir gemacht! fuhr er fort und blickte vorwurfsvoll seinen Schwiegervater an. Ich hatte es dir vorausgesagt erwiderte sie. Er hob sie auf, trug sie auf das Ruhebett zurück und sank neben ihr auf die Kniee. Sie sah zu ihm nieder und legte die kleine abgemagerte Hand auf seinen Kopf. Du kommst eben recht, mich sterben zu sehen, sagte sie. Die alte Härte war noch immer in ihr. Er schloß sie in die Arme und schluchzte laut. Der ruhige, kluge Mann war nicht zu erkennen, so brachte ihn die Verzweiflung außer sich. erschütterung. Zeit und vollkommene Ruhe seien das einzige Mittel, meinte er. Sie sträubte sich auch gegen nichts, aber ihr Zustand blieb unverändert. Sie lag mit geschlossenen Augen und schien Niemand zu erkennen. Ihr Mann riß sich von allen Geschäften los und eilte herbei als er die Nachricht von ihrer Krankheit erhielt. An dem Tage, da seine Ankunft erwartet wurde, verlangte sie zum ersten Male aufzustehen und ließ sich ankleiden, dann setzte sie sich und wartete. Er kam, böser Ahnungen voll, denn alle ihre Befürchtungen vor seiner Abreise waren ihm eingefallen, aber dennoch übertraf das, was er fand, seine schlimmsten Voraussetzungen bei weitem, und er schlug die Hände schmerzvoll zusammen vor dem bleichen, schattengleichen Abbild seiner jungen, vor Kurzem so blühend frischen Frau. Bei seinem Eintritt hatte sie sich erhoben; sie ging ihm entgegen und sank schweigend an seine Brust. Das schöne Haar, mit dem er so gerne gespielt, hatte man ihr abschneiden müssen, sie sah jünger aus, und fast ganz wie ein Kind. Leonie! rief er in tiefen Schmerz, sie innig an seine Brust schließend und ihr in die Augen sehend. O, was haben sie aus dir gemacht! fuhr er fort und blickte vorwurfsvoll seinen Schwiegervater an. Ich hatte es dir vorausgesagt erwiderte sie. Er hob sie auf, trug sie auf das Ruhebett zurück und sank neben ihr auf die Kniee. Sie sah zu ihm nieder und legte die kleine abgemagerte Hand auf seinen Kopf. Du kommst eben recht, mich sterben zu sehen, sagte sie. Die alte Härte war noch immer in ihr. Er schloß sie in die Arme und schluchzte laut. Der ruhige, kluge Mann war nicht zu erkennen, so brachte ihn die Verzweiflung außer sich. <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0209"/> erschütterung. Zeit und vollkommene Ruhe seien das einzige Mittel, meinte er. Sie sträubte sich auch gegen nichts, aber ihr Zustand blieb unverändert. Sie lag mit geschlossenen Augen und schien Niemand zu erkennen.</p><lb/> <p>Ihr Mann riß sich von allen Geschäften los und eilte herbei als er die Nachricht von ihrer Krankheit erhielt. 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erschütterung. Zeit und vollkommene Ruhe seien das einzige Mittel, meinte er. Sie sträubte sich auch gegen nichts, aber ihr Zustand blieb unverändert. Sie lag mit geschlossenen Augen und schien Niemand zu erkennen.
Ihr Mann riß sich von allen Geschäften los und eilte herbei als er die Nachricht von ihrer Krankheit erhielt. An dem Tage, da seine Ankunft erwartet wurde, verlangte sie zum ersten Male aufzustehen und ließ sich ankleiden, dann setzte sie sich und wartete.
Er kam, böser Ahnungen voll, denn alle ihre Befürchtungen vor seiner Abreise waren ihm eingefallen, aber dennoch übertraf das, was er fand, seine schlimmsten Voraussetzungen bei weitem, und er schlug die Hände schmerzvoll zusammen vor dem bleichen, schattengleichen Abbild seiner jungen, vor Kurzem so blühend frischen Frau.
Bei seinem Eintritt hatte sie sich erhoben; sie ging ihm entgegen und sank schweigend an seine Brust. Das schöne Haar, mit dem er so gerne gespielt, hatte man ihr abschneiden müssen, sie sah jünger aus, und fast ganz wie ein Kind.
Leonie! rief er in tiefen Schmerz, sie innig an seine Brust schließend und ihr in die Augen sehend.
O, was haben sie aus dir gemacht! fuhr er fort und blickte vorwurfsvoll seinen Schwiegervater an.
Ich hatte es dir vorausgesagt erwiderte sie.
Er hob sie auf, trug sie auf das Ruhebett zurück und sank neben ihr auf die Kniee. Sie sah zu ihm nieder und legte die kleine abgemagerte Hand auf seinen Kopf.
Du kommst eben recht, mich sterben zu sehen, sagte sie. Die alte Härte war noch immer in ihr.
Er schloß sie in die Arme und schluchzte laut. Der ruhige, kluge Mann war nicht zu erkennen, so brachte ihn die Verzweiflung außer sich.
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Zitationshilfe: | Wild, Hermine [d. i. Adele Wesemael]: Eure Wege sind nicht meine Wege. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–210. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wild_wege_1910/209>, abgerufen am 17.07.2024. |