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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Stellung der frage. moderne aesthetik.
dern muss erklärt werden. die entwickelung der philologie, wie sie im
vierten capitel dargestellt ist, gibt die erklärung.

Dass die hellenische poesie aus dem staube der folianten an dasModerne
aesthetik.

tageslicht trat, ist wenig über ein jahrhundert her. es geschah zu einer
zeit, deren richtung durchaus philosophisch war. wenn Lessing auf das
antike drama hinwies, so geschah das so, dass er diesem die geltung als
classisch liess, um das französische von der gleich hohen stellung zu
stürzen. zu dem zwecke hat auch Diderot die antike tragödie herange-
zogen 1). vollends die aristotelische poetik ward als kanonisch anerkannt,
um so lieber, als sie einen absoluten massstab gab, der für alle zeiten
anwendbar schien. Herder erhob sich zwar zu geschichtlicher betrach-
tung, aber nicht durch ein voraussetzungsloses studium der vergangen-
heit, sondern durch die philosophie der geschichte. auch lenkte er das
nachdenken und die arbeit der forscher vornehmlich auf die anfänge
und die ersten stadien der culturentwickelung, so dass das drama, die
letzte und vollkommenste blüte der hellenischen poesie, eine geringere
beachtung fand, zumal seine kunstvoll durchgebildete form dem volks-
tümlichen ferner liegt als in den meisten andern litteraturen. dieser
umstand hat noch lange fortgewirkt. als aus den kreisen der Roman-
tiker oder doch unter dem impulse, der von ihrer schule ausgieng, wieder-
holt der versuch gemacht ward, eine geschichte der griechischen litteratur
zu schreiben, gelangten die wenigsten auch nur bis an das drama heran,
und dann giengen sie darauf aus, es irgendwie mit der volkspoesie zu
verknüpfen.

Als dem deutschen volke eine anzahl dramen von seinen grossen
dichtern beschert wurden, die den antiken ebenbürtig waren, da waren
diese unabhängig von der antiken praxis und theorie entstanden; wo
der anschluss ein bewusster gewesen war, da ward die wirkung zum
mindesten dadurch beeinträchtigt. der erfolg konnte nicht ausbleiben,
dass man die antiken werke unwillkürlich mit den modernen verglich,
von ihnen forderte, was die modernen leisteten, und die form, die man

1) Es ist sehr bezeichnend, dass er schon in den bijoux indiscrets, welche zuerst
Lessing diese schwerlich von ihm dort gesuchte anregung gegeben haben (Hamb.
Dramat. 84 stück), den Philoktet des Sophokles als musterstück wählt: ein auf das
einfachst moralische reducirter, des mythischen fast ganz entkleideter stoff, daneben
die feinste charakteristik und die stärkste abweichung von der Versailler decenz.
so erscheint denn der Philoktet auch im Laokoon. für die verehrer der comedie
larmoyante war Philoktet das rechte: aber die Iphigenie mit ihm zu verbinden war
ein herzlich abgeschmackter einfall. da wirkt das mythische, echt tragische, und
hat die Elektra gevatter gestanden.

Stellung der frage. moderne aesthetik.
dern muſs erklärt werden. die entwickelung der philologie, wie sie im
vierten capitel dargestellt ist, gibt die erklärung.

Daſs die hellenische poesie aus dem staube der folianten an dasModerne
aesthetik.

tageslicht trat, ist wenig über ein jahrhundert her. es geschah zu einer
zeit, deren richtung durchaus philosophisch war. wenn Lessing auf das
antike drama hinwies, so geschah das so, daſs er diesem die geltung als
classisch lieſs, um das französische von der gleich hohen stellung zu
stürzen. zu dem zwecke hat auch Diderot die antike tragödie herange-
zogen 1). vollends die aristotelische poetik ward als kanonisch anerkannt,
um so lieber, als sie einen absoluten maſsstab gab, der für alle zeiten
anwendbar schien. Herder erhob sich zwar zu geschichtlicher betrach-
tung, aber nicht durch ein voraussetzungsloses studium der vergangen-
heit, sondern durch die philosophie der geschichte. auch lenkte er das
nachdenken und die arbeit der forscher vornehmlich auf die anfänge
und die ersten stadien der culturentwickelung, so daſs das drama, die
letzte und vollkommenste blüte der hellenischen poesie, eine geringere
beachtung fand, zumal seine kunstvoll durchgebildete form dem volks-
tümlichen ferner liegt als in den meisten andern litteraturen. dieser
umstand hat noch lange fortgewirkt. als aus den kreisen der Roman-
tiker oder doch unter dem impulse, der von ihrer schule ausgieng, wieder-
holt der versuch gemacht ward, eine geschichte der griechischen litteratur
zu schreiben, gelangten die wenigsten auch nur bis an das drama heran,
und dann giengen sie darauf aus, es irgendwie mit der volkspoesie zu
verknüpfen.

Als dem deutschen volke eine anzahl dramen von seinen groſsen
dichtern beschert wurden, die den antiken ebenbürtig waren, da waren
diese unabhängig von der antiken praxis und theorie entstanden; wo
der anschluſs ein bewuſster gewesen war, da ward die wirkung zum
mindesten dadurch beeinträchtigt. der erfolg konnte nicht ausbleiben,
daſs man die antiken werke unwillkürlich mit den modernen verglich,
von ihnen forderte, was die modernen leisteten, und die form, die man

1) Es ist sehr bezeichnend, daſs er schon in den bijoux indiscrets, welche zuerst
Lessing diese schwerlich von ihm dort gesuchte anregung gegeben haben (Hamb.
Dramat. 84 stück), den Philoktet des Sophokles als musterstück wählt: ein auf das
einfachst moralische reducirter, des mythischen fast ganz entkleideter stoff, daneben
die feinste charakteristik und die stärkste abweichung von der Versailler decenz.
so erscheint denn der Philoktet auch im Laokoon. für die verehrer der comédie
larmoyante war Philoktet das rechte: aber die Iphigenie mit ihm zu verbinden war
ein herzlich abgeschmackter einfall. da wirkt das mythische, echt tragische, und
hat die Elektra gevatter gestanden.
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[45/0065] Stellung der frage. moderne aesthetik. dern muſs erklärt werden. die entwickelung der philologie, wie sie im vierten capitel dargestellt ist, gibt die erklärung. Daſs die hellenische poesie aus dem staube der folianten an das tageslicht trat, ist wenig über ein jahrhundert her. es geschah zu einer zeit, deren richtung durchaus philosophisch war. wenn Lessing auf das antike drama hinwies, so geschah das so, daſs er diesem die geltung als classisch lieſs, um das französische von der gleich hohen stellung zu stürzen. zu dem zwecke hat auch Diderot die antike tragödie herange- zogen 1). vollends die aristotelische poetik ward als kanonisch anerkannt, um so lieber, als sie einen absoluten maſsstab gab, der für alle zeiten anwendbar schien. Herder erhob sich zwar zu geschichtlicher betrach- tung, aber nicht durch ein voraussetzungsloses studium der vergangen- heit, sondern durch die philosophie der geschichte. auch lenkte er das nachdenken und die arbeit der forscher vornehmlich auf die anfänge und die ersten stadien der culturentwickelung, so daſs das drama, die letzte und vollkommenste blüte der hellenischen poesie, eine geringere beachtung fand, zumal seine kunstvoll durchgebildete form dem volks- tümlichen ferner liegt als in den meisten andern litteraturen. dieser umstand hat noch lange fortgewirkt. als aus den kreisen der Roman- tiker oder doch unter dem impulse, der von ihrer schule ausgieng, wieder- holt der versuch gemacht ward, eine geschichte der griechischen litteratur zu schreiben, gelangten die wenigsten auch nur bis an das drama heran, und dann giengen sie darauf aus, es irgendwie mit der volkspoesie zu verknüpfen. Moderne aesthetik. Als dem deutschen volke eine anzahl dramen von seinen groſsen dichtern beschert wurden, die den antiken ebenbürtig waren, da waren diese unabhängig von der antiken praxis und theorie entstanden; wo der anschluſs ein bewuſster gewesen war, da ward die wirkung zum mindesten dadurch beeinträchtigt. der erfolg konnte nicht ausbleiben, daſs man die antiken werke unwillkürlich mit den modernen verglich, von ihnen forderte, was die modernen leisteten, und die form, die man 1) Es ist sehr bezeichnend, daſs er schon in den bijoux indiscrets, welche zuerst Lessing diese schwerlich von ihm dort gesuchte anregung gegeben haben (Hamb. Dramat. 84 stück), den Philoktet des Sophokles als musterstück wählt: ein auf das einfachst moralische reducirter, des mythischen fast ganz entkleideter stoff, daneben die feinste charakteristik und die stärkste abweichung von der Versailler decenz. so erscheint denn der Philoktet auch im Laokoon. für die verehrer der comédie larmoyante war Philoktet das rechte: aber die Iphigenie mit ihm zu verbinden war ein herzlich abgeschmackter einfall. da wirkt das mythische, echt tragische, und hat die Elektra gevatter gestanden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/65>, abgerufen am 28.11.2024.