Für das attische drama stellt sich die sache noch besonders ungünstig, weil es die geltung als classisch, d. b. unbedingt mustergiltig, viele jahrhunderte hindurch behauptet hat, und durch den jugendunterricht der glaube immer neue nahrung erhält, als würde dieser vorrang auch heute noch ernsthaft behauptet. der leser glaubt sich deshalb zur anlegung eines absoluten massstabes doppelt berechtigt, und jeden einwand, den er bei eigenem lesen wider die classicität mit fug und recht erhebt, richtet er gegen die alten dichter, gleich als ob sie die ungehörigen an- sprüche selbst erhöben. so haben diese für die traditionelle schätzung zu büssen und scheinen mit dieser zugleich auch ihren eigentümlichen wert zu verlieren.
Es soll eine solche betrachtungsweise nicht ganz verdammt werden. es muss einen massstab geben, der sich an jede poesie jeder zeit anlegen lässt ohne irgend jemand unrecht zu tun, wenn anders wir den glauben an die realität und ewigkeit des schönen nicht verlieren wollen. vor allem aber wird und soll sich keine zeit ihr recht verkümmern lassen, an ihrer eigenen empfindung die werke der vergangenheit zu messen. allein diese beiden massstäbe wird zwar ein jeder zunächst für identisch halten: in wahrheit ist jener ideale massstab dort wo die idee des schönen ist; was aber wir menschen uns an seiner statt machen, das ist selbst dem wechsel unterworfen, war etwas anderes als es ist und wird etwas anderes sein. wir mögen getrost mit dem messen was uns absolut erscheint, denn der lebende hat recht. aber der lebende hat auch recht gehabt zu seiner zeit, und ihm zu seinem rechte zu verhelfen ist die bescheidenere aber ungleich schwerere aufgabe der geschichtlichen wissenschaft. diese darf gar keine andern voraussetzungen machen als das individuum und die zeit, welcher das betrachtete werk angehört. aus sich und den bedingungen seines wesens und werdens hat sie es zu erklären. sie ver- zichtet mit nichten auf ein urteil, aber sie rechnet mit dem wollen und können des volkes, der zeit, des einzelnen menschen. sie sucht zu ver- stehen, nicht um zu verzeihen, sondern um gerecht zu richten.
Diese aufgabe, das verständnis als grundlage der krisis zu er- schliessen, hat die philologie gegenüber dem drama in arger weise ver- absäumt. es ist dahin gekommen, dass ausserhalb der zünftigen kreise die abschreckendste trivialität und die nakteste ignoranz sich unbehelligt an den edelsten werken der hellenischen poesie versündigen kann, und in den zünftigen kreisen die sehenden bei seite treten, die einäugigen oder gar blinden die führung sich anmassen. allein auch diese versäumnis will geschichtlich begriffen werden; sie darf nicht nur gescholten, son-
Was ist eine attische tragödie?
Für das attische drama stellt sich die sache noch besonders ungünstig, weil es die geltung als classisch, d. b. unbedingt mustergiltig, viele jahrhunderte hindurch behauptet hat, und durch den jugendunterricht der glaube immer neue nahrung erhält, als würde dieser vorrang auch heute noch ernsthaft behauptet. der leser glaubt sich deshalb zur anlegung eines absoluten maſsstabes doppelt berechtigt, und jeden einwand, den er bei eigenem lesen wider die classicität mit fug und recht erhebt, richtet er gegen die alten dichter, gleich als ob sie die ungehörigen an- sprüche selbst erhöben. so haben diese für die traditionelle schätzung zu büſsen und scheinen mit dieser zugleich auch ihren eigentümlichen wert zu verlieren.
Es soll eine solche betrachtungsweise nicht ganz verdammt werden. es muſs einen maſsstab geben, der sich an jede poesie jeder zeit anlegen läſst ohne irgend jemand unrecht zu tun, wenn anders wir den glauben an die realität und ewigkeit des schönen nicht verlieren wollen. vor allem aber wird und soll sich keine zeit ihr recht verkümmern lassen, an ihrer eigenen empfindung die werke der vergangenheit zu messen. allein diese beiden maſsstäbe wird zwar ein jeder zunächst für identisch halten: in wahrheit ist jener ideale maſsstab dort wo die idee des schönen ist; was aber wir menschen uns an seiner statt machen, das ist selbst dem wechsel unterworfen, war etwas anderes als es ist und wird etwas anderes sein. wir mögen getrost mit dem messen was uns absolut erscheint, denn der lebende hat recht. aber der lebende hat auch recht gehabt zu seiner zeit, und ihm zu seinem rechte zu verhelfen ist die bescheidenere aber ungleich schwerere aufgabe der geschichtlichen wissenschaft. diese darf gar keine andern voraussetzungen machen als das individuum und die zeit, welcher das betrachtete werk angehört. aus sich und den bedingungen seines wesens und werdens hat sie es zu erklären. sie ver- zichtet mit nichten auf ein urteil, aber sie rechnet mit dem wollen und können des volkes, der zeit, des einzelnen menschen. sie sucht zu ver- stehen, nicht um zu verzeihen, sondern um gerecht zu richten.
Diese aufgabe, das verständnis als grundlage der κρίσις zu er- schlieſsen, hat die philologie gegenüber dem drama in arger weise ver- absäumt. es ist dahin gekommen, daſs auſserhalb der zünftigen kreise die abschreckendste trivialität und die nakteste ignoranz sich unbehelligt an den edelsten werken der hellenischen poesie versündigen kann, und in den zünftigen kreisen die sehenden bei seite treten, die einäugigen oder gar blinden die führung sich anmaſsen. allein auch diese versäumnis will geschichtlich begriffen werden; sie darf nicht nur gescholten, son-
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[44/0064]
Was ist eine attische tragödie?
Für das attische drama stellt sich die sache noch besonders ungünstig,
weil es die geltung als classisch, d. b. unbedingt mustergiltig, viele
jahrhunderte hindurch behauptet hat, und durch den jugendunterricht
der glaube immer neue nahrung erhält, als würde dieser vorrang auch
heute noch ernsthaft behauptet. der leser glaubt sich deshalb zur anlegung
eines absoluten maſsstabes doppelt berechtigt, und jeden einwand, den
er bei eigenem lesen wider die classicität mit fug und recht erhebt,
richtet er gegen die alten dichter, gleich als ob sie die ungehörigen an-
sprüche selbst erhöben. so haben diese für die traditionelle schätzung
zu büſsen und scheinen mit dieser zugleich auch ihren eigentümlichen
wert zu verlieren.
Es soll eine solche betrachtungsweise nicht ganz verdammt werden.
es muſs einen maſsstab geben, der sich an jede poesie jeder zeit anlegen
läſst ohne irgend jemand unrecht zu tun, wenn anders wir den glauben
an die realität und ewigkeit des schönen nicht verlieren wollen. vor
allem aber wird und soll sich keine zeit ihr recht verkümmern lassen,
an ihrer eigenen empfindung die werke der vergangenheit zu messen.
allein diese beiden maſsstäbe wird zwar ein jeder zunächst für identisch
halten: in wahrheit ist jener ideale maſsstab dort wo die idee des schönen
ist; was aber wir menschen uns an seiner statt machen, das ist selbst dem
wechsel unterworfen, war etwas anderes als es ist und wird etwas anderes
sein. wir mögen getrost mit dem messen was uns absolut erscheint,
denn der lebende hat recht. aber der lebende hat auch recht gehabt zu
seiner zeit, und ihm zu seinem rechte zu verhelfen ist die bescheidenere
aber ungleich schwerere aufgabe der geschichtlichen wissenschaft. diese
darf gar keine andern voraussetzungen machen als das individuum und
die zeit, welcher das betrachtete werk angehört. aus sich und den
bedingungen seines wesens und werdens hat sie es zu erklären. sie ver-
zichtet mit nichten auf ein urteil, aber sie rechnet mit dem wollen und
können des volkes, der zeit, des einzelnen menschen. sie sucht zu ver-
stehen, nicht um zu verzeihen, sondern um gerecht zu richten.
Diese aufgabe, das verständnis als grundlage der κρίσις zu er-
schlieſsen, hat die philologie gegenüber dem drama in arger weise ver-
absäumt. es ist dahin gekommen, daſs auſserhalb der zünftigen kreise
die abschreckendste trivialität und die nakteste ignoranz sich unbehelligt
an den edelsten werken der hellenischen poesie versündigen kann, und
in den zünftigen kreisen die sehenden bei seite treten, die einäugigen
oder gar blinden die führung sich anmaſsen. allein auch diese versäumnis
will geschichtlich begriffen werden; sie darf nicht nur gescholten, son-
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/64>, abgerufen am 28.11.2024.
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