Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.Was ist eine attische tragödie? in der braut von Messina mit recht anstössig fand, auch im Oedipusbeanstandete. über die theorie des dramas hatten Goethe und Schiller tief nachgedacht, auch sie im unmittelbaren anschluss an Aristoteles, weshalb sie auch das drama im gegensatz zum epos auffassten; hätten sie aber auch die antiken gedichte im originale wirklich verstehen können, als dichter würden sie dennoch nicht die bedingungen und ziele fremden schaffens, sondern anregung und förderung für eigenes schaffen in ihnen gesucht haben. ganz besonders aber ward für die theorie des antiken dramas gerade so wie für die bald verlachte praxis der nachahmer ver- hängnisvoll, dass Schiller, der bekenner der Kantischen freiheitslehre, den begriff des grossen gigantischen schicksals, welches den menschen erhebt, wenn es den menschen zermalmt, als leitstern der tragischen sittlich- keit ausstellte. Die grundlinien der anschauung, welche bis auf den heutigen tag 2) Schlegel gesteht (I 133) halb und halb ein, dass er Euripides nur schlug,
weil er Iffland und Kotzebue meinte. das mochte ein geschickter streich sein, wenn Schiller ganz dasselbe in Shakespeares schatten auch unvergleichlich wahrer schöner und edler erreicht hatte; es durfte dann aber nicht als eine objective beurteilung auf- genommen und weitergegeben werden. Was ist eine attische tragödie? in der braut von Messina mit recht anstöſsig fand, auch im Oedipusbeanstandete. über die theorie des dramas hatten Goethe und Schiller tief nachgedacht, auch sie im unmittelbaren anschluſs an Aristoteles, weshalb sie auch das drama im gegensatz zum epos auffaſsten; hätten sie aber auch die antiken gedichte im originale wirklich verstehen können, als dichter würden sie dennoch nicht die bedingungen und ziele fremden schaffens, sondern anregung und förderung für eigenes schaffen in ihnen gesucht haben. ganz besonders aber ward für die theorie des antiken dramas gerade so wie für die bald verlachte praxis der nachahmer ver- hängnisvoll, daſs Schiller, der bekenner der Kantischen freiheitslehre, den begriff des groſsen gigantischen schicksals, welches den menschen erhebt, wenn es den menschen zermalmt, als leitstern der tragischen sittlich- keit auſstellte. Die grundlinien der anschauung, welche bis auf den heutigen tag 2) Schlegel gesteht (I 133) halb und halb ein, daſs er Euripides nur schlug,
weil er Iffland und Kotzebue meinte. das mochte ein geschickter streich sein, wenn Schiller ganz dasselbe in Shakespeares schatten auch unvergleichlich wahrer schöner und edler erreicht hatte; es durfte dann aber nicht als eine objective beurteilung auf- genommen und weitergegeben werden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0066" n="46"/><fw place="top" type="header">Was ist eine attische tragödie?</fw><lb/> in der braut von Messina mit recht anstöſsig fand, auch im Oedipus<lb/> beanstandete. über die theorie des dramas hatten Goethe und Schiller<lb/> tief nachgedacht, auch sie im unmittelbaren anschluſs an Aristoteles,<lb/> weshalb sie auch das drama im gegensatz zum epos auffaſsten; hätten<lb/> sie aber auch die antiken gedichte im originale wirklich verstehen können,<lb/> als dichter würden sie dennoch nicht die bedingungen und ziele fremden<lb/> schaffens, sondern anregung und förderung für eigenes schaffen in ihnen<lb/> gesucht haben. ganz besonders aber ward für die theorie des antiken<lb/> dramas gerade so wie für die bald verlachte praxis der nachahmer ver-<lb/> hängnisvoll, daſs Schiller, der bekenner der Kantischen freiheitslehre, den<lb/> begriff des groſsen gigantischen schicksals, welches den menschen erhebt,<lb/> wenn es den menschen zermalmt, als leitstern der tragischen sittlich-<lb/> keit auſstellte.</p><lb/> <p>Die grundlinien der anschauung, welche bis auf den heutigen tag<lb/> die verbreitete ist, gab A. W. Schlegel in den vorlesungen über drama-<lb/> tische kunst und litteratur. es war in der tat ein versuch, die dichtungen<lb/> der verschiedenen völker, welche Schlegel aus wirklicher eigener kenntnis<lb/> beurteilte, geschichtlich zu würdigen. aber dieser versuch ward mit einer<lb/> bestimmten praktischen tendenz gemacht. er predigte das evangelium<lb/> einer einigen reinen hohen kunst, und er glaubte mit recht, daſs er für<lb/> dieses ideal am besten dadurch propaganda machen könnte, wenn er zu<lb/> gunsten des allertrefflichsten all das auf das schärſste verurteilte und<lb/> herabsetzte, auf das sich der herrschende ungeschmack zu berufen pflegte,<lb/> welchen er eben brechen wollte <note place="foot" n="2)">Schlegel gesteht (I 133) halb und halb ein, daſs er Euripides nur schlug,<lb/> weil er Iffland und Kotzebue meinte. das mochte ein geschickter streich sein, wenn<lb/> Schiller ganz dasselbe in Shakespeares schatten auch unvergleichlich wahrer schöner<lb/> und edler erreicht hatte; es durfte dann aber nicht als eine objective beurteilung auf-<lb/> genommen und weitergegeben werden.</note>. im innersten grunde der seele endlich<lb/> betrachtete sich Schlegel als propheten des groſsen romantischen tragikers,<lb/> der nach der geschichtsphilosophie kommen sollte, um den bau der<lb/> deutschen poesie zu krönen. ob er die täuschung der genossen mitge-<lb/> macht und den heiland in L. Tieck gesehen hat, mag zweifelhaft sein;<lb/> ausgeblieben ist der heiland jedenfalls. die romantiker waren eine viel<lb/> zu reflectirte, geistreiche, ironische, angekränkelte gesellschaft, als daſs<lb/> sie die unmittelbare kraft einer groſsen tragischen wirkung hätten erzeugen<lb/> können; die meisten waren für eine solche überhaupt gar nicht empfäng-<lb/> lich, und selbst wenn sie die gröſsten tragiker bewundern und erläutern<lb/> wollen, so tun sie die auffälligsten irrgänge. es soll Tieck unvergessen<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [46/0066]
Was ist eine attische tragödie?
in der braut von Messina mit recht anstöſsig fand, auch im Oedipus
beanstandete. über die theorie des dramas hatten Goethe und Schiller
tief nachgedacht, auch sie im unmittelbaren anschluſs an Aristoteles,
weshalb sie auch das drama im gegensatz zum epos auffaſsten; hätten
sie aber auch die antiken gedichte im originale wirklich verstehen können,
als dichter würden sie dennoch nicht die bedingungen und ziele fremden
schaffens, sondern anregung und förderung für eigenes schaffen in ihnen
gesucht haben. ganz besonders aber ward für die theorie des antiken
dramas gerade so wie für die bald verlachte praxis der nachahmer ver-
hängnisvoll, daſs Schiller, der bekenner der Kantischen freiheitslehre, den
begriff des groſsen gigantischen schicksals, welches den menschen erhebt,
wenn es den menschen zermalmt, als leitstern der tragischen sittlich-
keit auſstellte.
Die grundlinien der anschauung, welche bis auf den heutigen tag
die verbreitete ist, gab A. W. Schlegel in den vorlesungen über drama-
tische kunst und litteratur. es war in der tat ein versuch, die dichtungen
der verschiedenen völker, welche Schlegel aus wirklicher eigener kenntnis
beurteilte, geschichtlich zu würdigen. aber dieser versuch ward mit einer
bestimmten praktischen tendenz gemacht. er predigte das evangelium
einer einigen reinen hohen kunst, und er glaubte mit recht, daſs er für
dieses ideal am besten dadurch propaganda machen könnte, wenn er zu
gunsten des allertrefflichsten all das auf das schärſste verurteilte und
herabsetzte, auf das sich der herrschende ungeschmack zu berufen pflegte,
welchen er eben brechen wollte 2). im innersten grunde der seele endlich
betrachtete sich Schlegel als propheten des groſsen romantischen tragikers,
der nach der geschichtsphilosophie kommen sollte, um den bau der
deutschen poesie zu krönen. ob er die täuschung der genossen mitge-
macht und den heiland in L. Tieck gesehen hat, mag zweifelhaft sein;
ausgeblieben ist der heiland jedenfalls. die romantiker waren eine viel
zu reflectirte, geistreiche, ironische, angekränkelte gesellschaft, als daſs
sie die unmittelbare kraft einer groſsen tragischen wirkung hätten erzeugen
können; die meisten waren für eine solche überhaupt gar nicht empfäng-
lich, und selbst wenn sie die gröſsten tragiker bewundern und erläutern
wollen, so tun sie die auffälligsten irrgänge. es soll Tieck unvergessen
2) Schlegel gesteht (I 133) halb und halb ein, daſs er Euripides nur schlug,
weil er Iffland und Kotzebue meinte. das mochte ein geschickter streich sein, wenn
Schiller ganz dasselbe in Shakespeares schatten auch unvergleichlich wahrer schöner
und edler erreicht hatte; es durfte dann aber nicht als eine objective beurteilung auf-
genommen und weitergegeben werden.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |