Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Das leben des Euripides.
stammt 38). gewiss würden wir noch mehr bemerken, wenn nicht Sophokles
als greis sehr stark unter dem einflusse des Euripides stünde; auf das
umgekehrte verhältnis deutet nichts 39).

Dass Euripides für das musikalisch metrische sehr viel grössere
neigung und erfindsamkeit besass als Sophokles, zeigen die werke. aber
auch die alten haben schon hervorgehoben, dass er mannigfache neue an-
regungen in sich aufnahm und nichts unversucht liess. insbesondere hat er
sich seit 420 etwa der neuen musik rückhaltlos angeschlossen, welche die
dithyrambiker unter heftiger opposition der komödie aufbrachten. uns ist
eine vergleichung versagt, und die klagen über Phrynis lehren, dass die
bewegung selbst schon mehrere jahrzehnte früher begonnen hat, als
wir ihre spuren sicher nachweisen können. der niederschlag dieser
verhältnisse in der legende ist die persönliche verbindung des Euripides
mit Timotheos. von selbst werden wir glauben, dass der greise tragiker
anregungen auch nach musikalischer seite gegeben hat, wie sein stili-
stischer einfluss nicht bloss bei tragikern der rhetorischen richtung zu tage
liegt, sondern selbst bei dem Sophokles copirenden verfasser des Rhesos.

philosophia.

Aber die lehre, welche er bei seinen zunftgenossen fand, war für
die bildung des Euripides keineswegs die wichtigste. er hat die neue
weisheitslehre, welche in Athen von den zusammenströmenden gelehrten
Ioniens teils verkündet teils fortgebildet ward, mit vollen zügen in sich
aufgenommen, und schon den zeitgenossen war das für ihn am meisten
bezeichnend, dass er auch auf der bühne sophist war: sophos heisst er
in spott und in bewunderung. unsere berichterstatter wissen so ziemlich
alle namhaften sophisten, die es der zeit nach gewesen sein könnten,
als lehrer des Euripides zu nennen. dass sie über eine wirkliche über-
lieferung verfügten, ist kaum glaublich, denn zeitgenössische berichte,
wie sie die memoiren des Chiers Ion für die beiden andern tragiker
boten, hat es unseres wissens für Euripides nicht gegeben. wol aber
haben sie nachweislich mit recht aus den werken des Euripides die ein-
wirkung bestimmter personen erschlossen, und nur das ist zweifelhaft

38) Die 7 sophokleischen tragödien zeigen diese erscheinung etwa so oft wie
die 18 euripideischen, und in oft sehr harten fällen. der verfasser des Rhesos folgt
hierin wie in der melopoeie ganz dem Sophokles.
39) Auch im altertum hat man bemerkt, dass Aischylos und Euripides auf der
einen, Sophokles auf der andern seite steht. Porphyrio zu Horaz ep. II 1, 55 Pa-
cuvius famam docti aufert et consequitur Sophoclis, Accius Aeschyli Euripidisque
qui dicendi sunt alti
. da die horazische doctrin, welche hier erklärt wird, varro-
nisch ist, wird es auch diese erklärung im kerne sein. und wenn wir es nur sti-
listisch fassen, ist es wahr. Sophokles künstelt an der sprache.

Das leben des Euripides.
stammt 38). gewiſs würden wir noch mehr bemerken, wenn nicht Sophokles
als greis sehr stark unter dem einflusse des Euripides stünde; auf das
umgekehrte verhältnis deutet nichts 39).

Daſs Euripides für das musikalisch metrische sehr viel gröſsere
neigung und erfindsamkeit besaſs als Sophokles, zeigen die werke. aber
auch die alten haben schon hervorgehoben, daſs er mannigfache neue an-
regungen in sich aufnahm und nichts unversucht lieſs. insbesondere hat er
sich seit 420 etwa der neuen musik rückhaltlos angeschlossen, welche die
dithyrambiker unter heftiger opposition der komödie aufbrachten. uns ist
eine vergleichung versagt, und die klagen über Phrynis lehren, daſs die
bewegung selbst schon mehrere jahrzehnte früher begonnen hat, als
wir ihre spuren sicher nachweisen können. der niederschlag dieser
verhältnisse in der legende ist die persönliche verbindung des Euripides
mit Timotheos. von selbst werden wir glauben, daſs der greise tragiker
anregungen auch nach musikalischer seite gegeben hat, wie sein stili-
stischer einfluſs nicht bloſs bei tragikern der rhetorischen richtung zu tage
liegt, sondern selbst bei dem Sophokles copirenden verfasser des Rhesos.

φιλοσοφία.

Aber die lehre, welche er bei seinen zunftgenossen fand, war für
die bildung des Euripides keineswegs die wichtigste. er hat die neue
weisheitslehre, welche in Athen von den zusammenströmenden gelehrten
Ioniens teils verkündet teils fortgebildet ward, mit vollen zügen in sich
aufgenommen, und schon den zeitgenossen war das für ihn am meisten
bezeichnend, daſs er auch auf der bühne sophist war: σοφός heiſst er
in spott und in bewunderung. unsere berichterstatter wissen so ziemlich
alle namhaften sophisten, die es der zeit nach gewesen sein könnten,
als lehrer des Euripides zu nennen. daſs sie über eine wirkliche über-
lieferung verfügten, ist kaum glaublich, denn zeitgenössische berichte,
wie sie die memoiren des Chiers Ion für die beiden andern tragiker
boten, hat es unseres wissens für Euripides nicht gegeben. wol aber
haben sie nachweislich mit recht aus den werken des Euripides die ein-
wirkung bestimmter personen erschlossen, und nur das ist zweifelhaft

38) Die 7 sophokleischen tragödien zeigen diese erscheinung etwa so oft wie
die 18 euripideischen, und in oft sehr harten fällen. der verfasser des Rhesos folgt
hierin wie in der melopoeie ganz dem Sophokles.
39) Auch im altertum hat man bemerkt, daſs Aischylos und Euripides auf der
einen, Sophokles auf der andern seite steht. Porphyrio zu Horaz ep. II 1, 55 Pa-
cuvius famam docti aufert et consequitur Sophoclis, Accius Aeschyli Euripidisque
qui dicendi sunt alti
. da die horazische doctrin, welche hier erklärt wird, varro-
nisch ist, wird es auch diese erklärung im kerne sein. und wenn wir es nur sti-
listisch fassen, ist es wahr. Sophokles künstelt an der sprache.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0042" n="22"/><fw place="top" type="header">Das leben des Euripides.</fw><lb/>
stammt <note place="foot" n="38)">Die 7 sophokleischen tragödien zeigen diese erscheinung etwa so oft wie<lb/>
die 18 euripideischen, und in oft sehr harten fällen. der verfasser des Rhesos folgt<lb/>
hierin wie in der melopoeie ganz dem Sophokles.</note>. gewi&#x017F;s würden wir noch mehr bemerken, wenn nicht Sophokles<lb/>
als greis sehr stark unter dem einflusse des Euripides stünde; auf das<lb/>
umgekehrte verhältnis deutet nichts <note place="foot" n="39)">Auch im altertum hat man bemerkt, da&#x017F;s Aischylos und Euripides auf der<lb/>
einen, Sophokles auf der andern seite steht. Porphyrio zu Horaz ep. II 1, 55 <hi rendition="#i">Pa-<lb/>
cuvius famam docti aufert et consequitur Sophoclis, Accius Aeschyli Euripidisque<lb/>
qui dicendi sunt alti</hi>. da die horazische doctrin, welche hier erklärt wird, varro-<lb/>
nisch ist, wird es auch diese erklärung im kerne sein. und wenn wir es nur sti-<lb/>
listisch fassen, ist es wahr. Sophokles künstelt an der sprache.</note>.</p><lb/>
        <p>Da&#x017F;s Euripides für das musikalisch metrische sehr viel grö&#x017F;sere<lb/>
neigung und erfindsamkeit besa&#x017F;s als Sophokles, zeigen die werke. aber<lb/>
auch die alten haben schon hervorgehoben, da&#x017F;s er mannigfache neue an-<lb/>
regungen in sich aufnahm und nichts unversucht lie&#x017F;s. insbesondere hat er<lb/>
sich seit 420 etwa der neuen musik rückhaltlos angeschlossen, welche die<lb/>
dithyrambiker unter heftiger opposition der komödie aufbrachten. uns ist<lb/>
eine vergleichung versagt, und die klagen über Phrynis lehren, da&#x017F;s die<lb/>
bewegung selbst schon mehrere jahrzehnte früher begonnen hat, als<lb/>
wir ihre spuren sicher nachweisen können. der niederschlag dieser<lb/>
verhältnisse in der legende ist die persönliche verbindung des Euripides<lb/>
mit Timotheos. von selbst werden wir glauben, da&#x017F;s der greise tragiker<lb/>
anregungen auch nach musikalischer seite gegeben hat, wie sein stili-<lb/>
stischer einflu&#x017F;s nicht blo&#x017F;s bei tragikern der rhetorischen richtung zu tage<lb/>
liegt, sondern selbst bei dem Sophokles copirenden verfasser des Rhesos.</p><lb/>
        <note place="left">&#x03C6;&#x03B9;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C3;&#x03BF;&#x03C6;&#x03AF;&#x03B1;.</note>
        <p>Aber die lehre, welche er bei seinen zunftgenossen fand, war für<lb/>
die bildung des Euripides keineswegs die wichtigste. er hat die neue<lb/>
weisheitslehre, welche in Athen von den zusammenströmenden gelehrten<lb/>
Ioniens teils verkündet teils fortgebildet ward, mit vollen zügen in sich<lb/>
aufgenommen, und schon den zeitgenossen war das für ihn am meisten<lb/>
bezeichnend, da&#x017F;s er auch auf der bühne sophist war: &#x03C3;&#x03BF;&#x03C6;&#x03CC;&#x03C2; hei&#x017F;st er<lb/>
in spott und in bewunderung. unsere berichterstatter wissen so ziemlich<lb/>
alle namhaften sophisten, die es der zeit nach gewesen sein könnten,<lb/>
als lehrer des Euripides zu nennen. da&#x017F;s sie über eine wirkliche über-<lb/>
lieferung verfügten, ist kaum glaublich, denn zeitgenössische berichte,<lb/>
wie sie die memoiren des Chiers Ion für die beiden andern tragiker<lb/>
boten, hat es unseres wissens für Euripides nicht gegeben. wol aber<lb/>
haben sie nachweislich mit recht aus den werken des Euripides die ein-<lb/>
wirkung bestimmter personen erschlossen, und nur das ist zweifelhaft<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0042] Das leben des Euripides. stammt 38). gewiſs würden wir noch mehr bemerken, wenn nicht Sophokles als greis sehr stark unter dem einflusse des Euripides stünde; auf das umgekehrte verhältnis deutet nichts 39). Daſs Euripides für das musikalisch metrische sehr viel gröſsere neigung und erfindsamkeit besaſs als Sophokles, zeigen die werke. aber auch die alten haben schon hervorgehoben, daſs er mannigfache neue an- regungen in sich aufnahm und nichts unversucht lieſs. insbesondere hat er sich seit 420 etwa der neuen musik rückhaltlos angeschlossen, welche die dithyrambiker unter heftiger opposition der komödie aufbrachten. uns ist eine vergleichung versagt, und die klagen über Phrynis lehren, daſs die bewegung selbst schon mehrere jahrzehnte früher begonnen hat, als wir ihre spuren sicher nachweisen können. der niederschlag dieser verhältnisse in der legende ist die persönliche verbindung des Euripides mit Timotheos. von selbst werden wir glauben, daſs der greise tragiker anregungen auch nach musikalischer seite gegeben hat, wie sein stili- stischer einfluſs nicht bloſs bei tragikern der rhetorischen richtung zu tage liegt, sondern selbst bei dem Sophokles copirenden verfasser des Rhesos. Aber die lehre, welche er bei seinen zunftgenossen fand, war für die bildung des Euripides keineswegs die wichtigste. er hat die neue weisheitslehre, welche in Athen von den zusammenströmenden gelehrten Ioniens teils verkündet teils fortgebildet ward, mit vollen zügen in sich aufgenommen, und schon den zeitgenossen war das für ihn am meisten bezeichnend, daſs er auch auf der bühne sophist war: σοφός heiſst er in spott und in bewunderung. unsere berichterstatter wissen so ziemlich alle namhaften sophisten, die es der zeit nach gewesen sein könnten, als lehrer des Euripides zu nennen. daſs sie über eine wirkliche über- lieferung verfügten, ist kaum glaublich, denn zeitgenössische berichte, wie sie die memoiren des Chiers Ion für die beiden andern tragiker boten, hat es unseres wissens für Euripides nicht gegeben. wol aber haben sie nachweislich mit recht aus den werken des Euripides die ein- wirkung bestimmter personen erschlossen, und nur das ist zweifelhaft 38) Die 7 sophokleischen tragödien zeigen diese erscheinung etwa so oft wie die 18 euripideischen, und in oft sehr harten fällen. der verfasser des Rhesos folgt hierin wie in der melopoeie ganz dem Sophokles. 39) Auch im altertum hat man bemerkt, daſs Aischylos und Euripides auf der einen, Sophokles auf der andern seite steht. Porphyrio zu Horaz ep. II 1, 55 Pa- cuvius famam docti aufert et consequitur Sophoclis, Accius Aeschyli Euripidisque qui dicendi sunt alti. da die horazische doctrin, welche hier erklärt wird, varro- nisch ist, wird es auch diese erklärung im kerne sein. und wenn wir es nur sti- listisch fassen, ist es wahr. Sophokles künstelt an der sprache.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/42
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/42>, abgerufen am 27.11.2024.