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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Geistige entwickelung.
ein weihgeschenk oder einen grabstein ein distichon zu stande bringen: das
war noch kein dichten. wir sehen sogar einzelne Athener, die eine volle
bildung haben wollen, noch weiteren musikalischen unterricht als beim
kitharisten nehmen. den lehrer des Perikles hat Aristoteles verzeichnet;
dieser hat sein mündel Alkibiades auch von einem virtuosen im flöten-
spiel unterrichten lassen, und Sokrates hat in der musse des gefängnisses
ein prosodion an Apollon verfassen können, weil er bei Konnos noch
als alter mann die mängel seiner jugendbildung zu ersetzen versucht hatte.
dass die sophistik auch musik und metrik in ihre kreise zog, ist selbst-
verständlich und wird durch die erfahrungen des Strepsiades illustrirt 35).
wie viel mehr bedurfte der angehende dichter eines meisters, der ihm
die kunstgriffe und fertigkeiten des handwerks übermittelte. Pindars
lehrer kennen wir. Sophokles soll die musik bei Lampros, die tragödie
bei Aischylos gelernt haben. über Euripides hören wir nichts. dass Aischy-
los, der sogar die tänze den choreuten selbst beibrachte und das dichter-
handwerk seinem sohne und mehreren anderen verwandten hinterliess,
auch andere unterwiesen hat, ist glaublich. aber Sophokles hat jedenfalls
nichts bei ihm gelernt. weit eher könnte man es von Euripides glauben,
wo die zeit es verbietet. denn Sophokles vertritt im gegensatze zu seinen
beiden rivalen eine andere kunstrichtung, und gerade im technischen liegt
der gegensatz. offenbar ist Sophokles dem ionischen einfluss hingegeben;
seine rede strotzt von ionismen und versteigt sich nicht selten zu einer
künstlichkeit der metaphern, die an Ion von Chios erinnert, und das
greift selbst auf das prosodische über: nur Sophokles hat (wenigstens im
dialog 36) das ionische emin. sein versbau folgt andern prinzipien 37), sodass
er sich nicht scheut am versende zu elidiren, was nur Achaios von
Eretria sonst tut, und sehr lax in der verkürzung eines schliessenden
langen vocals vor vocalischem anlaut ist, eine freiheit, die aus dem epos

35) So hat Damon Damonides' sohn über musik und metrik geschrieben. die
scene der Wolken, in der Sokrates den Damon vertritt wie sonst den Apollo-
niaten Diogenes, ist der älteste reflex seines buches. die sophistische fiction war
eine rede vor dem Areopag, freilich eine fiction (Philodem de mus. 104 K.), aber
nicht ärger als wenn Gorgias alle Hellenen in Olympia, oder die trauerversammlung
im Kerameikos anredet. und dass der Areopag wirklich die eukosmia zu überwachen
hatte (Isokr. 7, 37), zu bezweifeln ist kein grund. das buch Damons ist nach der
zeit der alten Peripatetiker verschollen. vgl. Bücheler Rh. M. 40, 309.
36) Im liede scheint es Aisch. Eum. 347 zu haben: doch ist dort ummin wahr-
scheinlicher, da er auch umme hat. Ar. Ach. 556 ist nicht von Eur., darf also umin be-
halten. bei Eupolis inc. 2, 3 ist emin epistas euron statt e. emin zu setzen.
37) Vgl. zu v. 280.

Geistige entwickelung.
ein weihgeschenk oder einen grabstein ein distichon zu stande bringen: das
war noch kein dichten. wir sehen sogar einzelne Athener, die eine volle
bildung haben wollen, noch weiteren musikalischen unterricht als beim
kitharisten nehmen. den lehrer des Perikles hat Aristoteles verzeichnet;
dieser hat sein mündel Alkibiades auch von einem virtuosen im flöten-
spiel unterrichten lassen, und Sokrates hat in der muſse des gefängnisses
ein προσόδιον an Apollon verfassen können, weil er bei Konnos noch
als alter mann die mängel seiner jugendbildung zu ersetzen versucht hatte.
daſs die sophistik auch musik und metrik in ihre kreise zog, ist selbst-
verständlich und wird durch die erfahrungen des Strepsiades illustrirt 35).
wie viel mehr bedurfte der angehende dichter eines meisters, der ihm
die kunstgriffe und fertigkeiten des handwerks übermittelte. Pindars
lehrer kennen wir. Sophokles soll die musik bei Lampros, die tragödie
bei Aischylos gelernt haben. über Euripides hören wir nichts. daſs Aischy-
los, der sogar die tänze den choreuten selbst beibrachte und das dichter-
handwerk seinem sohne und mehreren anderen verwandten hinterlieſs,
auch andere unterwiesen hat, ist glaublich. aber Sophokles hat jedenfalls
nichts bei ihm gelernt. weit eher könnte man es von Euripides glauben,
wo die zeit es verbietet. denn Sophokles vertritt im gegensatze zu seinen
beiden rivalen eine andere kunstrichtung, und gerade im technischen liegt
der gegensatz. offenbar ist Sophokles dem ionischen einfluſs hingegeben;
seine rede strotzt von ionismen und versteigt sich nicht selten zu einer
künstlichkeit der metaphern, die an Ion von Chios erinnert, und das
greift selbst auf das prosodische über: nur Sophokles hat (wenigstens im
dialog 36) das ionische ἡμίν. sein versbau folgt andern prinzipien 37), sodaſs
er sich nicht scheut am versende zu elidiren, was nur Achaios von
Eretria sonst tut, und sehr lax in der verkürzung eines schlieſsenden
langen vocals vor vocalischem anlaut ist, eine freiheit, die aus dem epos

35) So hat Damon Damonides’ sohn über musik und metrik geschrieben. die
scene der Wolken, in der Sokrates den Damon vertritt wie sonst den Apollo-
niaten Diogenes, ist der älteste reflex seines buches. die sophistische fiction war
eine rede vor dem Areopag, freilich eine fiction (Philodem de mus. 104 K.), aber
nicht ärger als wenn Gorgias alle Hellenen in Olympia, oder die trauerversammlung
im Kerameikos anredet. und daſs der Areopag wirklich die εὐκοσμία zu überwachen
hatte (Isokr. 7, 37), zu bezweifeln ist kein grund. das buch Damons ist nach der
zeit der alten Peripatetiker verschollen. vgl. Bücheler Rh. M. 40, 309.
36) Im liede scheint es Aisch. Eum. 347 zu haben: doch ist dort ὔμμιν wahr-
scheinlicher, da er auch ὔμμε hat. Ar. Ach. 556 ist nicht von Eur., darf also ὑμῖν be-
halten. bei Eupolis inc. 2, 3 ist ἡμῖν ἐπίστασ̕ εὑρών statt ἐ. ἡμἰν zu setzen.
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[21/0041] Geistige entwickelung. ein weihgeschenk oder einen grabstein ein distichon zu stande bringen: das war noch kein dichten. wir sehen sogar einzelne Athener, die eine volle bildung haben wollen, noch weiteren musikalischen unterricht als beim kitharisten nehmen. den lehrer des Perikles hat Aristoteles verzeichnet; dieser hat sein mündel Alkibiades auch von einem virtuosen im flöten- spiel unterrichten lassen, und Sokrates hat in der muſse des gefängnisses ein προσόδιον an Apollon verfassen können, weil er bei Konnos noch als alter mann die mängel seiner jugendbildung zu ersetzen versucht hatte. daſs die sophistik auch musik und metrik in ihre kreise zog, ist selbst- verständlich und wird durch die erfahrungen des Strepsiades illustrirt 35). wie viel mehr bedurfte der angehende dichter eines meisters, der ihm die kunstgriffe und fertigkeiten des handwerks übermittelte. Pindars lehrer kennen wir. Sophokles soll die musik bei Lampros, die tragödie bei Aischylos gelernt haben. über Euripides hören wir nichts. daſs Aischy- los, der sogar die tänze den choreuten selbst beibrachte und das dichter- handwerk seinem sohne und mehreren anderen verwandten hinterlieſs, auch andere unterwiesen hat, ist glaublich. aber Sophokles hat jedenfalls nichts bei ihm gelernt. weit eher könnte man es von Euripides glauben, wo die zeit es verbietet. denn Sophokles vertritt im gegensatze zu seinen beiden rivalen eine andere kunstrichtung, und gerade im technischen liegt der gegensatz. offenbar ist Sophokles dem ionischen einfluſs hingegeben; seine rede strotzt von ionismen und versteigt sich nicht selten zu einer künstlichkeit der metaphern, die an Ion von Chios erinnert, und das greift selbst auf das prosodische über: nur Sophokles hat (wenigstens im dialog 36) das ionische ἡμίν. sein versbau folgt andern prinzipien 37), sodaſs er sich nicht scheut am versende zu elidiren, was nur Achaios von Eretria sonst tut, und sehr lax in der verkürzung eines schlieſsenden langen vocals vor vocalischem anlaut ist, eine freiheit, die aus dem epos 35) So hat Damon Damonides’ sohn über musik und metrik geschrieben. die scene der Wolken, in der Sokrates den Damon vertritt wie sonst den Apollo- niaten Diogenes, ist der älteste reflex seines buches. die sophistische fiction war eine rede vor dem Areopag, freilich eine fiction (Philodem de mus. 104 K.), aber nicht ärger als wenn Gorgias alle Hellenen in Olympia, oder die trauerversammlung im Kerameikos anredet. und daſs der Areopag wirklich die εὐκοσμία zu überwachen hatte (Isokr. 7, 37), zu bezweifeln ist kein grund. das buch Damons ist nach der zeit der alten Peripatetiker verschollen. vgl. Bücheler Rh. M. 40, 309. 36) Im liede scheint es Aisch. Eum. 347 zu haben: doch ist dort ὔμμιν wahr- scheinlicher, da er auch ὔμμε hat. Ar. Ach. 556 ist nicht von Eur., darf also ὑμῖν be- halten. bei Eupolis inc. 2, 3 ist ἡμῖν ἐπίστασ̕ εὑρών statt ἐ. ἡμἰν zu setzen. 37) Vgl. zu v. 280.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/41>, abgerufen am 28.11.2024.