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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Recensio. die wahren aufgaben.
und Aischines, Xenophon und Aristoteles (physik, leider selbst rhetorik),
eigentlich auch im Homer, und dass es nicht höhere sicherheit sondern
nur grössere armut ist, wenn ein text einheitlicher aussieht, weil uns
zufällig nur eine handschrift selbst oder in abschriften erhalten ist.

Um so höhere wichtigkeit gewinnt die textgeschichte, welche den
grad der zuverlässigkeit unserer überlieferung, so gut es geht, geschicht-
lich erkennen lehrt. auch dafür ist zwar gearbeitet, aber überwiegend
mit der tendenz, anhaltspunkte für änderungen zu gewinnen. die scholien
las man nicht um der 999 fälle willen, wo sie den überlieferten text
bestätigen, sondern um des tausendsten, wo sie eine abweichung geben.
oder aber man las, unbefriedigt mit diesem ergebnis, die varianten in
sie hinein, wozu sich die schlechtesten paraphrasen dann allerdings am
besten eigneten. die lexica las man nicht, um die richtigen oder falschen
erklärungen der alten für die überlieferten wörter zu finden, sondern um
die vermeintlichen glossen aus den texten zu vertreiben. die citate
sammelte man halb unwillig, weil sie zustimmend oder abweichend für
die güte unserer handschriften zu zeugen pflegen. und selbst die not-
wendigste vorarbeit, eine brauchbare ausgabe der scholien wie des Hesych
und der Etymologika zu machen, ist unserer generation geblieben.

Was ist demnach die aufgabe, welche uns von der wissenschaft ge-Die wahren
aufgaben.

stellt ist? ihre entwickelung gibt uns eine einfache formulirung. wir
haben da anzusetzen, wo der streit zwischen Hermann und O. Müller
den natürlichen fortgang gehemmt hat, beider werk fortzusetzen, doch
so, dass wir nicht nur die fehler vermeiden, welche damals verhängnisvoll
wurden, sondern das beherzigen, was die philologie im ganzen in dem
halben jahrhundert zugelernt hat. das erste und vornehmste ist also,
dass wir wieder so viel griechisch lernen, wie Hermann und Elmsley
konnten. aber wenn wir uns das können anzueignen versuchen, dürfen
wir uns nicht damit begnügen, es als kunst zu üben, sondern müssen
uns dessen was wir wissen und können selbst bewusst werden und es
für andere zur darstellung bringen. wir müssen selber verstehen und
anderen erklären. das erste erfordert, dass wir vorab das besser wissen
wollen ablegen, unser urteil der überlieferung willig ergeben, und,
wenn wir anstossen, zunächst nicht ihr sondern uns mistrauen. wir
sollen das verständnis herausheben, nicht hineintragen. das gilt von dem
einzelnen worte, das gilt in tausendfältiger variation von dem individuellen
dichterischen gedanken und seinem ausdrucke im einzelnen verse, im
einzelnen chorlied, im ganzen drama. ganz allmählich werden wir uns
dann zu der freiheit erheben, über dem objecte zu stehen und die kritik

Recensio. die wahren aufgaben.
und Aischines, Xenophon und Aristoteles (physik, leider selbst rhetorik),
eigentlich auch im Homer, und daſs es nicht höhere sicherheit sondern
nur gröſsere armut ist, wenn ein text einheitlicher aussieht, weil uns
zufällig nur eine handschrift selbst oder in abschriften erhalten ist.

Um so höhere wichtigkeit gewinnt die textgeschichte, welche den
grad der zuverlässigkeit unserer überlieferung, so gut es geht, geschicht-
lich erkennen lehrt. auch dafür ist zwar gearbeitet, aber überwiegend
mit der tendenz, anhaltspunkte für änderungen zu gewinnen. die scholien
las man nicht um der 999 fälle willen, wo sie den überlieferten text
bestätigen, sondern um des tausendsten, wo sie eine abweichung geben.
oder aber man las, unbefriedigt mit diesem ergebnis, die varianten in
sie hinein, wozu sich die schlechtesten paraphrasen dann allerdings am
besten eigneten. die lexica las man nicht, um die richtigen oder falschen
erklärungen der alten für die überlieferten wörter zu finden, sondern um
die vermeintlichen glossen aus den texten zu vertreiben. die citate
sammelte man halb unwillig, weil sie zustimmend oder abweichend für
die güte unserer handschriften zu zeugen pflegen. und selbst die not-
wendigste vorarbeit, eine brauchbare ausgabe der scholien wie des Hesych
und der Etymologika zu machen, ist unserer generation geblieben.

Was ist demnach die aufgabe, welche uns von der wissenschaft ge-Die wahren
aufgaben.

stellt ist? ihre entwickelung gibt uns eine einfache formulirung. wir
haben da anzusetzen, wo der streit zwischen Hermann und O. Müller
den natürlichen fortgang gehemmt hat, beider werk fortzusetzen, doch
so, daſs wir nicht nur die fehler vermeiden, welche damals verhängnisvoll
wurden, sondern das beherzigen, was die philologie im ganzen in dem
halben jahrhundert zugelernt hat. das erste und vornehmste ist also,
daſs wir wieder so viel griechisch lernen, wie Hermann und Elmsley
konnten. aber wenn wir uns das können anzueignen versuchen, dürfen
wir uns nicht damit begnügen, es als kunst zu üben, sondern müssen
uns dessen was wir wissen und können selbst bewuſst werden und es
für andere zur darstellung bringen. wir müssen selber verstehen und
anderen erklären. das erste erfordert, daſs wir vorab das besser wissen
wollen ablegen, unser urteil der überlieferung willig ergeben, und,
wenn wir anstoſsen, zunächst nicht ihr sondern uns mistrauen. wir
sollen das verständnis herausheben, nicht hineintragen. das gilt von dem
einzelnen worte, das gilt in tausendfältiger variation von dem individuellen
dichterischen gedanken und seinem ausdrucke im einzelnen verse, im
einzelnen chorlied, im ganzen drama. ganz allmählich werden wir uns
dann zu der freiheit erheben, über dem objecte zu stehen und die kritik

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/273>, abgerufen am 29.11.2024.