im modernen wie die khrisis im antiken sinne gerecht zu üben. und auch wer die freude als eine köstliche schätzt, eine stelle verbessert zu haben, wird sich wol nicht scheuen zu sagen, dass er ein freudiges gefühl empfindet, wenn er eine conjectur ausstreicht, weil er die stelle verstanden hat. nur bleibe man nicht bei dem genusse des eigenen gewinnes stehen, sondern über die nächstenpflicht, andern den gleichen irrgang zu ersparen. die nakten texte sind auch in den zeiten des conjecturalen diluviums ziem- lich heil abgedruckt worden: aber damit ist höchstens für den heraus- geber das verständnis garantirt. welche prophylaktische wirkung würde Haupt ausgeübt haben, wenn er den Catull erklärt hätte, so wie er ihn verstand?
Die wesentliche wandlung, welche die philologie erfahren hat, ist dass sie eine geschichtliche wissenschaft geworden ist. davon hat die tragikerkritik noch herzlich wenig befruchtung erhalten, und das ist ein hauptgrund ihrer krankheit, denn deshalb kann der widergeschichtliche subjectivismus und die aprioristische construction sich behaupten. das gilt gleich von der sprache. zwar das formelle ist auch hier durch die geschichtliche grammatik, die rechte erbin der Elmsleyschen analogie, im wesentlichen erledigt. aber die form ist nur der körper: das seelische element, die synonymik, die wortwahl überhaupt gemäss den nuancen von bedeutung und ton, sowol des innerlichen klanges wie des äusseren, der für das griechische ohr so bedeutsam ist -- wie wenig ist dafür getan? die syntax vollends liegt noch in den banden der alten abstracten theorie, welche die einzelne stelle als einen beleg einer regel ansieht, die regel aus der logik begründet, statt von der empfindung und dem sprachgefühl des redenden auszugehen. schon das durchgehends giltige zu finden ist schwer. denn wenn das drama die letzte blüte am baume einer uralten poesie ist, wenn Aeoler Ionier Dorer dafür vorgearbeitet haben, so ist diese sprache und des weiteren dieser poetische stil das ergebnis eines langen geschicht- lichen processes, und kann recht nur aus ihm verstanden werden, wie andererseits ein einzelnes wort oftmals ein überraschendes licht über jahr- hunderte rückwärts wirft. schwieriger aber ist es noch abzuschätzen, was die sprachgewalt und auch die willkür des einzelnen dichters geschaffen und gewagt hat: und doch heisst das sprachliche und stilistische können des dichters abschätzen doch nichts anderes, als eben das facit aus der abrechnung zwischen seinem gute und dem ererbten und angeborenen besitze ziehen. wie armselig stehen da in ihrem nichts die jämmerlichen versuche unhistorischer unwissenheit da, welche die geschichtlich ge- wordene litteratursprache in eine anzahl roher mundarten auflösen, und
Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
im modernen wie die χρίσις im antiken sinne gerecht zu üben. und auch wer die freude als eine köstliche schätzt, eine stelle verbessert zu haben, wird sich wol nicht scheuen zu sagen, daſs er ein freudiges gefühl empfindet, wenn er eine conjectur ausstreicht, weil er die stelle verstanden hat. nur bleibe man nicht bei dem genusse des eigenen gewinnes stehen, sondern über die nächstenpflicht, andern den gleichen irrgang zu ersparen. die nakten texte sind auch in den zeiten des conjecturalen diluviums ziem- lich heil abgedruckt worden: aber damit ist höchstens für den heraus- geber das verständnis garantirt. welche prophylaktische wirkung würde Haupt ausgeübt haben, wenn er den Catull erklärt hätte, so wie er ihn verstand?
Die wesentliche wandlung, welche die philologie erfahren hat, ist daſs sie eine geschichtliche wissenschaft geworden ist. davon hat die tragikerkritik noch herzlich wenig befruchtung erhalten, und das ist ein hauptgrund ihrer krankheit, denn deshalb kann der widergeschichtliche subjectivismus und die aprioristische construction sich behaupten. das gilt gleich von der sprache. zwar das formelle ist auch hier durch die geschichtliche grammatik, die rechte erbin der Elmsleyschen analogie, im wesentlichen erledigt. aber die form ist nur der körper: das seelische element, die synonymik, die wortwahl überhaupt gemäſs den nuancen von bedeutung und ton, sowol des innerlichen klanges wie des äuſseren, der für das griechische ohr so bedeutsam ist — wie wenig ist dafür getan? die syntax vollends liegt noch in den banden der alten abstracten theorie, welche die einzelne stelle als einen beleg einer regel ansieht, die regel aus der logik begründet, statt von der empfindung und dem sprachgefühl des redenden auszugehen. schon das durchgehends giltige zu finden ist schwer. denn wenn das drama die letzte blüte am baume einer uralten poesie ist, wenn Aeoler Ionier Dorer dafür vorgearbeitet haben, so ist diese sprache und des weiteren dieser poetische stil das ergebnis eines langen geschicht- lichen processes, und kann recht nur aus ihm verstanden werden, wie andererseits ein einzelnes wort oftmals ein überraschendes licht über jahr- hunderte rückwärts wirft. schwieriger aber ist es noch abzuschätzen, was die sprachgewalt und auch die willkür des einzelnen dichters geschaffen und gewagt hat: und doch heiſst das sprachliche und stilistische können des dichters abschätzen doch nichts anderes, als eben das facit aus der abrechnung zwischen seinem gute und dem ererbten und angeborenen besitze ziehen. wie armselig stehen da in ihrem nichts die jämmerlichen versuche unhistorischer unwissenheit da, welche die geschichtlich ge- wordene litteratursprache in eine anzahl roher mundarten auflösen, und
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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
im modernen wie die χρίσις im antiken sinne gerecht zu üben. und
auch wer die freude als eine köstliche schätzt, eine stelle verbessert zu
haben, wird sich wol nicht scheuen zu sagen, daſs er ein freudiges gefühl
empfindet, wenn er eine conjectur ausstreicht, weil er die stelle verstanden
hat. nur bleibe man nicht bei dem genusse des eigenen gewinnes stehen,
sondern über die nächstenpflicht, andern den gleichen irrgang zu ersparen.
die nakten texte sind auch in den zeiten des conjecturalen diluviums ziem-
lich heil abgedruckt worden: aber damit ist höchstens für den heraus-
geber das verständnis garantirt. welche prophylaktische wirkung würde
Haupt ausgeübt haben, wenn er den Catull erklärt hätte, so wie er ihn
verstand?
Die wesentliche wandlung, welche die philologie erfahren hat, ist
daſs sie eine geschichtliche wissenschaft geworden ist. davon hat die
tragikerkritik noch herzlich wenig befruchtung erhalten, und das ist ein
hauptgrund ihrer krankheit, denn deshalb kann der widergeschichtliche
subjectivismus und die aprioristische construction sich behaupten. das
gilt gleich von der sprache. zwar das formelle ist auch hier durch die
geschichtliche grammatik, die rechte erbin der Elmsleyschen analogie, im
wesentlichen erledigt. aber die form ist nur der körper: das seelische
element, die synonymik, die wortwahl überhaupt gemäſs den nuancen
von bedeutung und ton, sowol des innerlichen klanges wie des äuſseren,
der für das griechische ohr so bedeutsam ist — wie wenig ist dafür getan?
die syntax vollends liegt noch in den banden der alten abstracten theorie,
welche die einzelne stelle als einen beleg einer regel ansieht, die regel aus
der logik begründet, statt von der empfindung und dem sprachgefühl des
redenden auszugehen. schon das durchgehends giltige zu finden ist schwer.
denn wenn das drama die letzte blüte am baume einer uralten poesie ist,
wenn Aeoler Ionier Dorer dafür vorgearbeitet haben, so ist diese sprache
und des weiteren dieser poetische stil das ergebnis eines langen geschicht-
lichen processes, und kann recht nur aus ihm verstanden werden, wie
andererseits ein einzelnes wort oftmals ein überraschendes licht über jahr-
hunderte rückwärts wirft. schwieriger aber ist es noch abzuschätzen, was
die sprachgewalt und auch die willkür des einzelnen dichters geschaffen
und gewagt hat: und doch heiſst das sprachliche und stilistische können
des dichters abschätzen doch nichts anderes, als eben das facit aus der
abrechnung zwischen seinem gute und dem ererbten und angeborenen
besitze ziehen. wie armselig stehen da in ihrem nichts die jämmerlichen
versuche unhistorischer unwissenheit da, welche die geschichtlich ge-
wordene litteratursprache in eine anzahl roher mundarten auflösen, und
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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/274>, abgerufen am 05.07.2024.
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