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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
durch ihre unerbittliche energie imponirte; ganz abgesehen davon, dass
auch der emendatorische gewinn wol grösser ist, als Kirchhoff ihn in
seiner kleinen ausgabe (1868) selbst geschätzt hat. unzweifelhaft war es
aber sehr wenig in Kirchhoffs sinne, wenn man sich nicht nur bei seinem
urteil über den wert der handschriften beruhigte (nur dass eben Nauck
sich einen freieren blick bewahrte), sondern auch fast 20 jahre vergiengen,
bis dazu hand angelegt ward, die von ihm selbst bezeichneten lücken der
handschriftenvergleichung auszufüllen, wobei dann freilich seine sonderung
der classen und die schätzung ihres wertes stark berichtigt werden musste.
nun ist es zwar begreiflich, dass die zeit, welche vor des eigenen geistes
kraft der überlieferung überhaupt so wenig wert beimass, mit solchen
untergeordneten dingen wie sie zur recensio gehören sich nicht viel be-
mengen mochte. aber das erklärt nicht ganz die hingabe an jede doctrin,
welche die überlieferungsgeschichte vereinfachte. auch das wird nur im
zusammenhange mit dem ganzen streben der zeit verständlich.

Wir sehen in der beurteilung der recensio griechischer texte erst
jahrhunderte lang die herausgeber lediglich dem zufalle gehorchen, der
ihnen diese oder jene quellen der überlieferung zuführt. es folgt durch
1. Bekker und seine mitstrebenden die fundamentirung auf grund der
möglichst erschöpften summe aller erhaltenen handschriften; die auswahl
bestimmte der kritische takt des bearbeiters. notwendig musste man dafür
nach strengen beweisbaren normen suchen. dabei zeigte sich das über-
gewicht einzelner besonders ausgezeichneter handschriften, und zuweilen
gelang der nachweis, dass die scheinbare fülle trug war, in wahrheit nur
eine handschrift existirte. Sauppes epistula critica, in welcher das für
Lysias erwiesen ward, musste den wetteifer reizen, ob nicht ein ähnlicher
fund hie oder da gelingen könnte. später stellte Cobet in seinen frischesten
und beutereichsten feldzügen die ganze nichtsnutzigkeit des schreibfehler
und sprachfehler häufenden byzantinischen schreibertums der letzten jahr-
hunderte an den pranger, so dass die gefährliche, weil so gar bequeme,
neigung nur um so stärker wurde, z. b. im Platon lediglich Regius und
Clarkianus, im Isokrates lediglich G, im Demosthenes S zu berücksichtigen.
fast überall kam es dazu, dass man nur eine quelle der überlieferung
gelten liess, wenn auch mehrfach erbitterter streit um die auswahl ge-
führt ward. es würde sehr erfreulich sein, wenn das geschäft der recensio
wirklich so einfach wäre. aber von tag zu tag zeigt sich mehr, dass es
in den meisten fällen unerlaubt ist, sich in solcher sicherheit zu wiegen.
die resignation ist geboten, dass wir auf eine eklektische kritik angewiesen
sind, wie in den scenikern, so im Herodot und Thukydides, Demosthenes

Wege und ziele der modernen tragikerkritik.
durch ihre unerbittliche energie imponirte; ganz abgesehen davon, daſs
auch der emendatorische gewinn wol gröſser ist, als Kirchhoff ihn in
seiner kleinen ausgabe (1868) selbst geschätzt hat. unzweifelhaft war es
aber sehr wenig in Kirchhoffs sinne, wenn man sich nicht nur bei seinem
urteil über den wert der handschriften beruhigte (nur daſs eben Nauck
sich einen freieren blick bewahrte), sondern auch fast 20 jahre vergiengen,
bis dazu hand angelegt ward, die von ihm selbst bezeichneten lücken der
handschriftenvergleichung auszufüllen, wobei dann freilich seine sonderung
der classen und die schätzung ihres wertes stark berichtigt werden muſste.
nun ist es zwar begreiflich, daſs die zeit, welche vor des eigenen geistes
kraft der überlieferung überhaupt so wenig wert beimaſs, mit solchen
untergeordneten dingen wie sie zur recensio gehören sich nicht viel be-
mengen mochte. aber das erklärt nicht ganz die hingabe an jede doctrin,
welche die überlieferungsgeschichte vereinfachte. auch das wird nur im
zusammenhange mit dem ganzen streben der zeit verständlich.

Wir sehen in der beurteilung der recensio griechischer texte erst
jahrhunderte lang die herausgeber lediglich dem zufalle gehorchen, der
ihnen diese oder jene quellen der überlieferung zuführt. es folgt durch
1. Bekker und seine mitstrebenden die fundamentirung auf grund der
möglichst erschöpften summe aller erhaltenen handschriften; die auswahl
bestimmte der kritische takt des bearbeiters. notwendig muſste man dafür
nach strengen beweisbaren normen suchen. dabei zeigte sich das über-
gewicht einzelner besonders ausgezeichneter handschriften, und zuweilen
gelang der nachweis, daſs die scheinbare fülle trug war, in wahrheit nur
eine handschrift existirte. Sauppes epistula critica, in welcher das für
Lysias erwiesen ward, muſste den wetteifer reizen, ob nicht ein ähnlicher
fund hie oder da gelingen könnte. später stellte Cobet in seinen frischesten
und beutereichsten feldzügen die ganze nichtsnutzigkeit des schreibfehler
und sprachfehler häufenden byzantinischen schreibertums der letzten jahr-
hunderte an den pranger, so daſs die gefährliche, weil so gar bequeme,
neigung nur um so stärker wurde, z. b. im Platon lediglich Regius und
Clarkianus, im Isokrates lediglich Γ, im Demosthenes Σ zu berücksichtigen.
fast überall kam es dazu, daſs man nur eine quelle der überlieferung
gelten lieſs, wenn auch mehrfach erbitterter streit um die auswahl ge-
führt ward. es würde sehr erfreulich sein, wenn das geschäft der recensio
wirklich so einfach wäre. aber von tag zu tag zeigt sich mehr, daſs es
in den meisten fällen unerlaubt ist, sich in solcher sicherheit zu wiegen.
die resignation ist geboten, daſs wir auf eine eklektische kritik angewiesen
sind, wie in den scenikern, so im Herodot und Thukydides, Demosthenes

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[252/0272] Wege und ziele der modernen tragikerkritik. durch ihre unerbittliche energie imponirte; ganz abgesehen davon, daſs auch der emendatorische gewinn wol gröſser ist, als Kirchhoff ihn in seiner kleinen ausgabe (1868) selbst geschätzt hat. unzweifelhaft war es aber sehr wenig in Kirchhoffs sinne, wenn man sich nicht nur bei seinem urteil über den wert der handschriften beruhigte (nur daſs eben Nauck sich einen freieren blick bewahrte), sondern auch fast 20 jahre vergiengen, bis dazu hand angelegt ward, die von ihm selbst bezeichneten lücken der handschriftenvergleichung auszufüllen, wobei dann freilich seine sonderung der classen und die schätzung ihres wertes stark berichtigt werden muſste. nun ist es zwar begreiflich, daſs die zeit, welche vor des eigenen geistes kraft der überlieferung überhaupt so wenig wert beimaſs, mit solchen untergeordneten dingen wie sie zur recensio gehören sich nicht viel be- mengen mochte. aber das erklärt nicht ganz die hingabe an jede doctrin, welche die überlieferungsgeschichte vereinfachte. auch das wird nur im zusammenhange mit dem ganzen streben der zeit verständlich. Wir sehen in der beurteilung der recensio griechischer texte erst jahrhunderte lang die herausgeber lediglich dem zufalle gehorchen, der ihnen diese oder jene quellen der überlieferung zuführt. es folgt durch 1. Bekker und seine mitstrebenden die fundamentirung auf grund der möglichst erschöpften summe aller erhaltenen handschriften; die auswahl bestimmte der kritische takt des bearbeiters. notwendig muſste man dafür nach strengen beweisbaren normen suchen. dabei zeigte sich das über- gewicht einzelner besonders ausgezeichneter handschriften, und zuweilen gelang der nachweis, daſs die scheinbare fülle trug war, in wahrheit nur eine handschrift existirte. Sauppes epistula critica, in welcher das für Lysias erwiesen ward, muſste den wetteifer reizen, ob nicht ein ähnlicher fund hie oder da gelingen könnte. später stellte Cobet in seinen frischesten und beutereichsten feldzügen die ganze nichtsnutzigkeit des schreibfehler und sprachfehler häufenden byzantinischen schreibertums der letzten jahr- hunderte an den pranger, so daſs die gefährliche, weil so gar bequeme, neigung nur um so stärker wurde, z. b. im Platon lediglich Regius und Clarkianus, im Isokrates lediglich Γ, im Demosthenes Σ zu berücksichtigen. fast überall kam es dazu, daſs man nur eine quelle der überlieferung gelten lieſs, wenn auch mehrfach erbitterter streit um die auswahl ge- führt ward. es würde sehr erfreulich sein, wenn das geschäft der recensio wirklich so einfach wäre. aber von tag zu tag zeigt sich mehr, daſs es in den meisten fällen unerlaubt ist, sich in solcher sicherheit zu wiegen. die resignation ist geboten, daſs wir auf eine eklektische kritik angewiesen sind, wie in den scenikern, so im Herodot und Thukydides, Demosthenes

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/272>, abgerufen am 02.05.2024.