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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889.

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Was ist eine attische tragödie?
wirkt etwa z. b. Calderons Andacht zum kreuze nicht kathartisch, tragisch
selbst auf den, dem eine solche religion widerwärtig und entsetzlich ist?
der affect aber, durch den sie wirkt, ist doch wol weder eleos noch
phobos sondern devocion. der Prinz von Homburg schliesst mit einer
scene überwältigenden jubels, und selbst der leser in stiller kammer
stimmt laut in den schlussruf ein "in staub mit allen feinden Branden-
burgs": der affect, der sich da entlädt, ist doch wol von furcht und
mitleid sehr weit entfernt, ist patriotismus. nun mag Aristoteles ent-
schuldigt sein, denn er hatte für religiöse hingabe nicht viel mitgefühl, und
patriotismus kannte der heimatlose nicht. aber die alten Athener hatten
beides, und in den Eumeniden weht der echte fromme glaube an die
gerechtigkeit und das erbarmen der gottheit und der echte stolz auf das
herrlichste vaterland. also ist die beschränkung auf jene zwei affecte
zu eng. und doch ist noch schlimmer, was durch die einseitige hervor-
hebung derselben bewirkt wird. natürlich findet Aristoteles den dichter
und das gedicht am besten, welche diese affecte am stärksten spielen
lassen. unvermeidlich ist, dass ihm ein 'tragischer' ausgang mindestens
vorzüglicher erscheint, wobei denn Eumeniden und Philoktet und Iphi-
genie und Prinz von Homburg übel fahren müssen. und wenn die dichter
und das publicum erst dahinter kommen, dass die wirkung eine patho-
logische sein soll, so wird eine verrohung der empfindung unvermeidlich
sein, weil die reizungen immer stärker werden müssen. diese definition
führt zu Seneca; und wenn nur Shakespeare nicht so oft in diesem sinne
'tragisch' wäre. aber auch in der nötigen verallgemeinerung von der
tragödie auf die kunst überhaupt streift die aristotelische kunstlehre an das
philistergefühl, dass man in's theater gehe, um sich aus der misere des
tageslebens auf ein par stunden dadurch zu entrücken, dass man sich
recht ausweint oder auslacht; das bekommt gut; man geht am andern
morgen frischer in die tretmühle. es ist auch hier etwas von der frömmig-
keit am sonntagvormittag für die ganze woche. wenn Goethe vor der
meduse Rondanini die menschheit höher fühlt, Schiller meint, nie ganz
unglücklich werden zu können, seit er die Leichenspiele des Patroklos
gelesen hat, so ist das doch wol mehr: was wir für das leben dem ver-
danken, dass wir den Faust besitzen, täglich und stündlich bewusst und
unbewusst unter seiner wirkung stehen; die lebenserfahrung, die darin
liegt, dass einmal das grosse auge des einen stoischen gottes aus der kuppel
des Pantheons oder das bunte göttergewimmel der Christen in S. Maria
della Arena auf uns niedergeschaut hat, das ist etwas höheres als eine ein-
malige pathologische wirkung, die etwa nur im gedächtnis lebte: was man

Was ist eine attische tragödie?
wirkt etwa z. b. Calderons Andacht zum kreuze nicht kathartisch, tragisch
selbst auf den, dem eine solche religion widerwärtig und entsetzlich ist?
der affect aber, durch den sie wirkt, ist doch wol weder ἔλεος noch
φόβος sondern devocion. der Prinz von Homburg schlieſst mit einer
scene überwältigenden jubels, und selbst der leser in stiller kammer
stimmt laut in den schluſsruf ein “in staub mit allen feinden Branden-
burgs”: der affect, der sich da entlädt, ist doch wol von furcht und
mitleid sehr weit entfernt, ist patriotismus. nun mag Aristoteles ent-
schuldigt sein, denn er hatte für religiöse hingabe nicht viel mitgefühl, und
patriotismus kannte der heimatlose nicht. aber die alten Athener hatten
beides, und in den Eumeniden weht der echte fromme glaube an die
gerechtigkeit und das erbarmen der gottheit und der echte stolz auf das
herrlichste vaterland. also ist die beschränkung auf jene zwei affecte
zu eng. und doch ist noch schlimmer, was durch die einseitige hervor-
hebung derselben bewirkt wird. natürlich findet Aristoteles den dichter
und das gedicht am besten, welche diese affecte am stärksten spielen
lassen. unvermeidlich ist, daſs ihm ein ‘tragischer’ ausgang mindestens
vorzüglicher erscheint, wobei denn Eumeniden und Philoktet und Iphi-
genie und Prinz von Homburg übel fahren müssen. und wenn die dichter
und das publicum erst dahinter kommen, daſs die wirkung eine patho-
logische sein soll, so wird eine verrohung der empfindung unvermeidlich
sein, weil die reizungen immer stärker werden müssen. diese definition
führt zu Seneca; und wenn nur Shakespeare nicht so oft in diesem sinne
‘tragisch’ wäre. aber auch in der nötigen verallgemeinerung von der
tragödie auf die kunst überhaupt streift die aristotelische kunstlehre an das
philistergefühl, daſs man in’s theater gehe, um sich aus der misere des
tageslebens auf ein par stunden dadurch zu entrücken, daſs man sich
recht ausweint oder auslacht; das bekommt gut; man geht am andern
morgen frischer in die tretmühle. es ist auch hier etwas von der frömmig-
keit am sonntagvormittag für die ganze woche. wenn Goethe vor der
meduse Rondanini die menschheit höher fühlt, Schiller meint, nie ganz
unglücklich werden zu können, seit er die Leichenspiele des Patroklos
gelesen hat, so ist das doch wol mehr: was wir für das leben dem ver-
danken, daſs wir den Faust besitzen, täglich und stündlich bewuſst und
unbewuſst unter seiner wirkung stehen; die lebenserfahrung, die darin
liegt, daſs einmal das groſse auge des einen stoischen gottes aus der kuppel
des Pantheons oder das bunte göttergewimmel der Christen in S. Maria
della Arena auf uns niedergeschaut hat, das ist etwas höheres als eine ein-
malige pathologische wirkung, die etwa nur im gedächtnis lebte: was man

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[110/0130] Was ist eine attische tragödie? wirkt etwa z. b. Calderons Andacht zum kreuze nicht kathartisch, tragisch selbst auf den, dem eine solche religion widerwärtig und entsetzlich ist? der affect aber, durch den sie wirkt, ist doch wol weder ἔλεος noch φόβος sondern devocion. der Prinz von Homburg schlieſst mit einer scene überwältigenden jubels, und selbst der leser in stiller kammer stimmt laut in den schluſsruf ein “in staub mit allen feinden Branden- burgs”: der affect, der sich da entlädt, ist doch wol von furcht und mitleid sehr weit entfernt, ist patriotismus. nun mag Aristoteles ent- schuldigt sein, denn er hatte für religiöse hingabe nicht viel mitgefühl, und patriotismus kannte der heimatlose nicht. aber die alten Athener hatten beides, und in den Eumeniden weht der echte fromme glaube an die gerechtigkeit und das erbarmen der gottheit und der echte stolz auf das herrlichste vaterland. also ist die beschränkung auf jene zwei affecte zu eng. und doch ist noch schlimmer, was durch die einseitige hervor- hebung derselben bewirkt wird. natürlich findet Aristoteles den dichter und das gedicht am besten, welche diese affecte am stärksten spielen lassen. unvermeidlich ist, daſs ihm ein ‘tragischer’ ausgang mindestens vorzüglicher erscheint, wobei denn Eumeniden und Philoktet und Iphi- genie und Prinz von Homburg übel fahren müssen. und wenn die dichter und das publicum erst dahinter kommen, daſs die wirkung eine patho- logische sein soll, so wird eine verrohung der empfindung unvermeidlich sein, weil die reizungen immer stärker werden müssen. diese definition führt zu Seneca; und wenn nur Shakespeare nicht so oft in diesem sinne ‘tragisch’ wäre. aber auch in der nötigen verallgemeinerung von der tragödie auf die kunst überhaupt streift die aristotelische kunstlehre an das philistergefühl, daſs man in’s theater gehe, um sich aus der misere des tageslebens auf ein par stunden dadurch zu entrücken, daſs man sich recht ausweint oder auslacht; das bekommt gut; man geht am andern morgen frischer in die tretmühle. es ist auch hier etwas von der frömmig- keit am sonntagvormittag für die ganze woche. wenn Goethe vor der meduse Rondanini die menschheit höher fühlt, Schiller meint, nie ganz unglücklich werden zu können, seit er die Leichenspiele des Patroklos gelesen hat, so ist das doch wol mehr: was wir für das leben dem ver- danken, daſs wir den Faust besitzen, täglich und stündlich bewuſst und unbewuſst unter seiner wirkung stehen; die lebenserfahrung, die darin liegt, daſs einmal das groſse auge des einen stoischen gottes aus der kuppel des Pantheons oder das bunte göttergewimmel der Christen in S. Maria della Arena auf uns niedergeschaut hat, das ist etwas höheres als eine ein- malige pathologische wirkung, die etwa nur im gedächtnis lebte: was man

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/130>, abgerufen am 27.04.2024.