übertrieben wird, das sinnfällige allein als handlung erscheint, und ein flachkopf dem Tasso mangel an handlung vorwerfen darf, während anderer- seits für die sitte der botenreden im attischen drama, die doch lediglich aus seiner herkunft erklärt werden darf, eine aesthetische rechtfertigung erkünstelt wird.
Immerhin liegt hier nicht der hauptunterschied, der das attische drama von dem aristotelischen scheidet. aber er fährt fort di eleou kai phobou perainousa ten ton toiouton pathematon katharsin. und dieses kleinod der aristotelischen lehre können wir nicht brauchen, mag es auch das unschätzbarste sein. man kann doch darüber keine worte verlieren, dass eine kathartische wirkung weder Aischylos erstrebt noch die Athener erwartet haben. mag der philosoph auch noch so scharf und fein die wirkung beobachtet haben, welche eine tragödie auf das publicum oder auch auf ihn bei einsamem lesen ausübte: diese wirkung war den dichtern und ihrem volke unbewusst. der dichter, der für den festtag ein spiel lieferte, für das ihm bestimmte bedingungen gestellt waren, wollte gewiss höheres als beklatscht und bekränzt werden; ge- wiss wollte er sein volk lehren und erbauen: aber das lag in seinem berufe als dichter, nicht als tragiker. und das volk erwartete und erfuhr die wirkung der poesie als solcher: was es von der tragödie als solcher forderte, das lag in deren äusserem anlass, den Aristoteles (mit recht für seinen absoluten standpunkt) nicht berücksichtigt, wol aber wir aufzu- nehmen haben. die tragödie ist ein teil des dionysischen gottesdienstes. nun liegt am tage, dass die besten tragödien im tiefsten sinne erbaulich wirken: aber dem dionysischen dienste darf man das nicht zurechnen, denn dieser verlangt ja nicht nur auch das satyrspiel, sondern er hatte sich mit diesem lange begnügt, ohne etwas im ernsten sinne erbauliches zu fordern. um so weniger darf diese wirkung in die definition der tragödie eingang finden.
An sich betrachtet ist in der kunstlehre des Aristoteles ohne zweifel die volle grösse des unerbittlichen menschenkenners zu bewundern, und wer mag sich nicht gern daran erquicken, wenn er die hochmodernen sich mit dem probleme des wolgefallens an tragischen gegenständen ver- gebens quälen sieht. wie sollte nicht bedeutende wahrheit in dem liegen, worin Aristoteles und Goethe sich zusammenfinden? aber das sollte man sich eingestehen, dass die katharsis für das drama nicht artbe- stimmend sein kann, und selbst wenn man die affecte, durch welche das drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige par furcht und mitleid recht unzureichend bleiben. für uns gewiss; denn
Die aristotelische definition.
übertrieben wird, das sinnfällige allein als handlung erscheint, und ein flachkopf dem Tasso mangel an handlung vorwerfen darf, während anderer- seits für die sitte der botenreden im attischen drama, die doch lediglich aus seiner herkunft erklärt werden darf, eine aesthetische rechtfertigung erkünstelt wird.
Immerhin liegt hier nicht der hauptunterschied, der das attische drama von dem aristotelischen scheidet. aber er fährt fort δι̕ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παϑημάτων κάϑαρσιν. und dieses kleinod der aristotelischen lehre können wir nicht brauchen, mag es auch das unschätzbarste sein. man kann doch darüber keine worte verlieren, daſs eine kathartische wirkung weder Aischylos erstrebt noch die Athener erwartet haben. mag der philosoph auch noch so scharf und fein die wirkung beobachtet haben, welche eine tragödie auf das publicum oder auch auf ihn bei einsamem lesen ausübte: diese wirkung war den dichtern und ihrem volke unbewuſst. der dichter, der für den festtag ein spiel lieferte, für das ihm bestimmte bedingungen gestellt waren, wollte gewiſs höheres als beklatscht und bekränzt werden; ge- wiſs wollte er sein volk lehren und erbauen: aber das lag in seinem berufe als dichter, nicht als tragiker. und das volk erwartete und erfuhr die wirkung der poesie als solcher: was es von der tragödie als solcher forderte, das lag in deren äuſserem anlaſs, den Aristoteles (mit recht für seinen absoluten standpunkt) nicht berücksichtigt, wol aber wir aufzu- nehmen haben. die tragödie ist ein teil des dionysischen gottesdienstes. nun liegt am tage, daſs die besten tragödien im tiefsten sinne erbaulich wirken: aber dem dionysischen dienste darf man das nicht zurechnen, denn dieser verlangt ja nicht nur auch das satyrspiel, sondern er hatte sich mit diesem lange begnügt, ohne etwas im ernsten sinne erbauliches zu fordern. um so weniger darf diese wirkung in die definition der tragödie eingang finden.
An sich betrachtet ist in der kunstlehre des Aristoteles ohne zweifel die volle gröſse des unerbittlichen menschenkenners zu bewundern, und wer mag sich nicht gern daran erquicken, wenn er die hochmodernen sich mit dem probleme des wolgefallens an tragischen gegenständen ver- gebens quälen sieht. wie sollte nicht bedeutende wahrheit in dem liegen, worin Aristoteles und Goethe sich zusammenfinden? aber das sollte man sich eingestehen, daſs die κάϑαρσις für das drama nicht artbe- stimmend sein kann, und selbst wenn man die affecte, durch welche das drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige par furcht und mitleid recht unzureichend bleiben. für uns gewiſs; denn
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0129"n="109"/><fwplace="top"type="header">Die aristotelische definition.</fw><lb/>
übertrieben wird, das sinnfällige allein als handlung erscheint, und ein<lb/>
flachkopf dem Tasso mangel an handlung vorwerfen darf, während anderer-<lb/>
seits für die sitte der botenreden im attischen drama, die doch lediglich<lb/>
aus seiner herkunft erklärt werden darf, eine aesthetische rechtfertigung<lb/>
erkünstelt wird.</p><lb/><p>Immerhin liegt hier nicht der hauptunterschied, der das attische<lb/>
drama von dem aristotelischen scheidet. aber er fährt fort δι̕ἐλέουκαὶ<lb/>φόβουπεραίνουσατὴντῶντοιούτωνπαϑημάτωνκάϑαρσιν. und<lb/>
dieses kleinod der aristotelischen lehre können wir nicht brauchen, mag<lb/>
es auch das unschätzbarste sein. man kann doch darüber keine worte<lb/>
verlieren, daſs eine kathartische wirkung weder Aischylos erstrebt noch<lb/>
die Athener erwartet haben. mag der philosoph auch noch so scharf<lb/>
und fein die wirkung beobachtet haben, welche eine tragödie auf das<lb/>
publicum oder auch auf ihn bei einsamem lesen ausübte: diese wirkung<lb/>
war den dichtern und ihrem volke unbewuſst. der dichter, der für den<lb/>
festtag ein spiel lieferte, für das ihm bestimmte bedingungen gestellt<lb/>
waren, wollte gewiſs höheres als beklatscht und bekränzt werden; ge-<lb/>
wiſs wollte er sein volk lehren und erbauen: aber das lag in seinem<lb/>
berufe als dichter, nicht als tragiker. und das volk erwartete und erfuhr<lb/>
die wirkung der poesie als solcher: was es von der tragödie als solcher<lb/>
forderte, das lag in deren äuſserem anlaſs, den Aristoteles (mit recht für<lb/>
seinen absoluten standpunkt) nicht berücksichtigt, wol aber wir aufzu-<lb/>
nehmen haben. die tragödie ist ein teil des dionysischen gottesdienstes.<lb/>
nun liegt am tage, daſs die besten tragödien im tiefsten sinne erbaulich<lb/>
wirken: aber dem dionysischen dienste darf man das nicht zurechnen,<lb/>
denn dieser verlangt ja nicht nur auch das satyrspiel, sondern er hatte<lb/>
sich mit diesem lange begnügt, ohne etwas im ernsten sinne erbauliches<lb/>
zu fordern. um so weniger darf diese wirkung in die definition der<lb/>
tragödie eingang finden.</p><lb/><p>An sich betrachtet ist in der kunstlehre des Aristoteles ohne zweifel<lb/>
die volle gröſse des unerbittlichen menschenkenners zu bewundern, und<lb/>
wer mag sich nicht gern daran erquicken, wenn er die hochmodernen<lb/>
sich mit dem probleme des wolgefallens an tragischen gegenständen ver-<lb/>
gebens quälen sieht. wie sollte nicht bedeutende wahrheit in dem liegen,<lb/>
worin Aristoteles und Goethe sich zusammenfinden? aber das sollte<lb/>
man sich eingestehen, daſs die κάϑαρσις für das drama nicht artbe-<lb/>
stimmend sein kann, und selbst wenn man die affecte, durch welche das<lb/>
drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige par<lb/>
furcht und mitleid recht unzureichend bleiben. für uns gewiſs; denn<lb/></p></div></body></text></TEI>
[109/0129]
Die aristotelische definition.
übertrieben wird, das sinnfällige allein als handlung erscheint, und ein
flachkopf dem Tasso mangel an handlung vorwerfen darf, während anderer-
seits für die sitte der botenreden im attischen drama, die doch lediglich
aus seiner herkunft erklärt werden darf, eine aesthetische rechtfertigung
erkünstelt wird.
Immerhin liegt hier nicht der hauptunterschied, der das attische
drama von dem aristotelischen scheidet. aber er fährt fort δι̕ ἐλέου καὶ
φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παϑημάτων κάϑαρσιν. und
dieses kleinod der aristotelischen lehre können wir nicht brauchen, mag
es auch das unschätzbarste sein. man kann doch darüber keine worte
verlieren, daſs eine kathartische wirkung weder Aischylos erstrebt noch
die Athener erwartet haben. mag der philosoph auch noch so scharf
und fein die wirkung beobachtet haben, welche eine tragödie auf das
publicum oder auch auf ihn bei einsamem lesen ausübte: diese wirkung
war den dichtern und ihrem volke unbewuſst. der dichter, der für den
festtag ein spiel lieferte, für das ihm bestimmte bedingungen gestellt
waren, wollte gewiſs höheres als beklatscht und bekränzt werden; ge-
wiſs wollte er sein volk lehren und erbauen: aber das lag in seinem
berufe als dichter, nicht als tragiker. und das volk erwartete und erfuhr
die wirkung der poesie als solcher: was es von der tragödie als solcher
forderte, das lag in deren äuſserem anlaſs, den Aristoteles (mit recht für
seinen absoluten standpunkt) nicht berücksichtigt, wol aber wir aufzu-
nehmen haben. die tragödie ist ein teil des dionysischen gottesdienstes.
nun liegt am tage, daſs die besten tragödien im tiefsten sinne erbaulich
wirken: aber dem dionysischen dienste darf man das nicht zurechnen,
denn dieser verlangt ja nicht nur auch das satyrspiel, sondern er hatte
sich mit diesem lange begnügt, ohne etwas im ernsten sinne erbauliches
zu fordern. um so weniger darf diese wirkung in die definition der
tragödie eingang finden.
An sich betrachtet ist in der kunstlehre des Aristoteles ohne zweifel
die volle gröſse des unerbittlichen menschenkenners zu bewundern, und
wer mag sich nicht gern daran erquicken, wenn er die hochmodernen
sich mit dem probleme des wolgefallens an tragischen gegenständen ver-
gebens quälen sieht. wie sollte nicht bedeutende wahrheit in dem liegen,
worin Aristoteles und Goethe sich zusammenfinden? aber das sollte
man sich eingestehen, daſs die κάϑαρσις für das drama nicht artbe-
stimmend sein kann, und selbst wenn man die affecte, durch welche das
drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige par
furcht und mitleid recht unzureichend bleiben. für uns gewiſs; denn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Einleitung in die attische Tragödie (Euripides Herakles erklärt, Bd. 1). Berlin, 1889, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_tragoedie_1889/129>, abgerufen am 05.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.