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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Was ist die Politie? leben des Aristoteles. herkunft und heimat.
rechnen wir mit der person des verfassers. wir wollen über ihm stehen.
vieles von dem was ihm tatsache schien ist nicht wahr, viele seiner
urteile sind ungerecht, und wenn es für uns auch unschätzbaren wert
hat, zu wissen wie ein Aristoteles über Athen geurteilt hat, so sind das
doch zwei ganz verschiedene dinge, die verfassung und geschichte Athens,
und ihr abbild in der seele des Aristoteles. auch für unser politisches
urteil ist es, wenn wir uns wirklich eins erarbeitet haben, unschätzbar
zu wissen, wie ein Aristoteles vom staate gedacht hat; aber auch da
wollen und müssen wir selbständig dastehen und fragen, wie ist er zu
seiner ansicht gelangt?

So werden wir vor die aufgabe gestellt, das persönliche moment für
dieses buch zu erwägen. die gewährsmänner seiner berichte haben wir:
damit haben wir das buch noch lange nicht. nur bücher die mit kleister-
topf und schere gemacht werden, sind durch eine quellenanalyse erledigt.
in so tiefem range stehen weder die dialoge Ciceros noch die biographien
Plutarchs, geschweige ein werk eines Aristoteles. das ist sein kind und
bleibt sein kind: den vater müssen wir uns ansehn. den Aristoteles,
den die scholastik verehrt und die candidaten verfluchen, die sein system
sich aus dürren compendien einpauken, den fürsten der logik und den
vollender der althellenischen physik, den erfinder jener famosen natur-
erklärung, die in den händen geistloser nachfolger mit warm und kalt
und trocken und feucht und fünf elementen auf jede frage eine antwort
oder vielmehr eine ganze reihe von mepote zur verfügung hat, den
Aristoteles des to ti en einai und der andern formeln des terminolo-
gischen höllenzwanges brauchen wir hier freilich nicht, wol aber einen
Aristoteles, der für die scholastik und die candidaten und das system
nebensache ist, den sohn des Nikomachos aus Stagira. und da ich
nun einmal glaube, dass die zeit vor der akme uns sterbliche bestimmt,
so muss ich viele jahre zurückgreifen, um verständlich zu machen, wie
er dies buch so hat schreiben können.

Aristoteles war ein spross von heroischen ahnen, Asklepiade vonLeben des
Aristoteles.
herkunft
und heimat.

vaters und von mutters seite; der vater hatte offenbar der sitte gemäss
eine verwandte aus gleichem hause geheiratet.2) der name Nikomachos
bezeugt die herleitung dieser Asklepiaden aus Messene, denn in Pharai
ist der sohn Machaons Nikomachos mit seinem bruder Gorgasos zu
hause3), und es ist evident, dass eben nur durch diesen localcult der

2) So die vita Marciana. Dionysios gibt die herkunft von einem der chalki-
dischen gründer von Stagira daneben an; das schliesst sich keineswegs aus.
3) Pausanias IV 3 vgl. Isyllos 54.

Was ist die Politie? leben des Aristoteles. herkunft und heimat.
rechnen wir mit der person des verfassers. wir wollen über ihm stehen.
vieles von dem was ihm tatsache schien ist nicht wahr, viele seiner
urteile sind ungerecht, und wenn es für uns auch unschätzbaren wert
hat, zu wissen wie ein Aristoteles über Athen geurteilt hat, so sind das
doch zwei ganz verschiedene dinge, die verfassung und geschichte Athens,
und ihr abbild in der seele des Aristoteles. auch für unser politisches
urteil ist es, wenn wir uns wirklich eins erarbeitet haben, unschätzbar
zu wissen, wie ein Aristoteles vom staate gedacht hat; aber auch da
wollen und müssen wir selbständig dastehen und fragen, wie ist er zu
seiner ansicht gelangt?

So werden wir vor die aufgabe gestellt, das persönliche moment für
dieses buch zu erwägen. die gewährsmänner seiner berichte haben wir:
damit haben wir das buch noch lange nicht. nur bücher die mit kleister-
topf und schere gemacht werden, sind durch eine quellenanalyse erledigt.
in so tiefem range stehen weder die dialoge Ciceros noch die biographien
Plutarchs, geschweige ein werk eines Aristoteles. das ist sein kind und
bleibt sein kind: den vater müssen wir uns ansehn. den Aristoteles,
den die scholastik verehrt und die candidaten verfluchen, die sein system
sich aus dürren compendien einpauken, den fürsten der logik und den
vollender der althellenischen physik, den erfinder jener famosen natur-
erklärung, die in den händen geistloser nachfolger mit warm und kalt
und trocken und feucht und fünf elementen auf jede frage eine antwort
oder vielmehr eine ganze reihe von μήποτε zur verfügung hat, den
Aristoteles des τὸ τί ἦν εἶναι und der andern formeln des terminolo-
gischen höllenzwanges brauchen wir hier freilich nicht, wol aber einen
Aristoteles, der für die scholastik und die candidaten und das system
nebensache ist, den sohn des Nikomachos aus Stagira. und da ich
nun einmal glaube, daſs die zeit vor der ἀκμή uns sterbliche bestimmt,
so muſs ich viele jahre zurückgreifen, um verständlich zu machen, wie
er dies buch so hat schreiben können.

Aristoteles war ein sproſs von heroischen ahnen, Asklepiade vonLeben des
Aristoteles.
herkunft
und heimat.

vaters und von mutters seite; der vater hatte offenbar der sitte gemäſs
eine verwandte aus gleichem hause geheiratet.2) der name Nikomachos
bezeugt die herleitung dieser Asklepiaden aus Messene, denn in Pharai
ist der sohn Machaons Nikomachos mit seinem bruder Gorgasos zu
hause3), und es ist evident, daſs eben nur durch diesen localcult der

2) So die vita Marciana. Dionysios gibt die herkunft von einem der chalki-
dischen gründer von Stagira daneben an; das schlieſst sich keineswegs aus.
3) Pausanias IV 3 vgl. Isyllos 54.
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[311/0325] Was ist die Politie? leben des Aristoteles. herkunft und heimat. rechnen wir mit der person des verfassers. wir wollen über ihm stehen. vieles von dem was ihm tatsache schien ist nicht wahr, viele seiner urteile sind ungerecht, und wenn es für uns auch unschätzbaren wert hat, zu wissen wie ein Aristoteles über Athen geurteilt hat, so sind das doch zwei ganz verschiedene dinge, die verfassung und geschichte Athens, und ihr abbild in der seele des Aristoteles. auch für unser politisches urteil ist es, wenn wir uns wirklich eins erarbeitet haben, unschätzbar zu wissen, wie ein Aristoteles vom staate gedacht hat; aber auch da wollen und müssen wir selbständig dastehen und fragen, wie ist er zu seiner ansicht gelangt? So werden wir vor die aufgabe gestellt, das persönliche moment für dieses buch zu erwägen. die gewährsmänner seiner berichte haben wir: damit haben wir das buch noch lange nicht. nur bücher die mit kleister- topf und schere gemacht werden, sind durch eine quellenanalyse erledigt. in so tiefem range stehen weder die dialoge Ciceros noch die biographien Plutarchs, geschweige ein werk eines Aristoteles. das ist sein kind und bleibt sein kind: den vater müssen wir uns ansehn. den Aristoteles, den die scholastik verehrt und die candidaten verfluchen, die sein system sich aus dürren compendien einpauken, den fürsten der logik und den vollender der althellenischen physik, den erfinder jener famosen natur- erklärung, die in den händen geistloser nachfolger mit warm und kalt und trocken und feucht und fünf elementen auf jede frage eine antwort oder vielmehr eine ganze reihe von μήποτε zur verfügung hat, den Aristoteles des τὸ τί ἦν εἶναι und der andern formeln des terminolo- gischen höllenzwanges brauchen wir hier freilich nicht, wol aber einen Aristoteles, der für die scholastik und die candidaten und das system nebensache ist, den sohn des Nikomachos aus Stagira. und da ich nun einmal glaube, daſs die zeit vor der ἀκμή uns sterbliche bestimmt, so muſs ich viele jahre zurückgreifen, um verständlich zu machen, wie er dies buch so hat schreiben können. Aristoteles war ein sproſs von heroischen ahnen, Asklepiade von vaters und von mutters seite; der vater hatte offenbar der sitte gemäſs eine verwandte aus gleichem hause geheiratet. 2) der name Nikomachos bezeugt die herleitung dieser Asklepiaden aus Messene, denn in Pharai ist der sohn Machaons Nikomachos mit seinem bruder Gorgasos zu hause 3), und es ist evident, daſs eben nur durch diesen localcult der Leben des Aristoteles. herkunft und heimat. 2) So die vita Marciana. Dionysios gibt die herkunft von einem der chalki- dischen gründer von Stagira daneben an; das schlieſst sich keineswegs aus. 3) Pausanias IV 3 vgl. Isyllos 54.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/325>, abgerufen am 18.05.2024.