ist oft nur Resultat der Zeit und Umstände, bei Einzelnen, wie bei ganzen Völkern. Es gibt ein Leben, das dem Griffel der Geschichte keine Nah¬ rung gibt und dennoch aus der göttlichen Quelle entsprungen ist, aus der alles Lebendige abstammt. Sie wissen aus Herodot, wie wenig dazu gehörte, einem alten Perser im Sinne seines Volkes eine solche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahr¬ heit sprechen und damit war er fertig. Sollen wir mit christlichem Mitleid auf des armen Men¬ schen Unwissenheit herabsehen? Ich denke, wir lassen es bleiben. Ein Perser auf seinem schnel¬ len Roß, hinter Tigern durchs Gebirge streifend, Pfeil und Bogen in den schlanken Händen, Au¬ gen voll Feuer, trotziges Lächeln auf den von Lüge unentweihten Lippen, das war ein Mensch, auf den die Sonne, die er anbetete, mit Lust und Wohlgefallen herabsah -- wir würden eine schlechte Rolle an seiner Seite spielen.
Das bloße Wissen, meine Herren, hat kein inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche, sein Stoff zerfließt in Zentillionentheilchen. Wie manche Wissenschaft, ja wie mancher Ast einer früheren, erfordert gegenwärtig eines Menschen volles Leben, tägliches und nächtliches Arbeiten und Lernen, um sich des Stoffes nur einigermaßen zu
iſt oft nur Reſultat der Zeit und Umſtaͤnde, bei Einzelnen, wie bei ganzen Voͤlkern. Es gibt ein Leben, das dem Griffel der Geſchichte keine Nah¬ rung gibt und dennoch aus der goͤttlichen Quelle entſprungen iſt, aus der alles Lebendige abſtammt. Sie wiſſen aus Herodot, wie wenig dazu gehoͤrte, einem alten Perſer im Sinne ſeines Volkes eine ſolche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahr¬ heit ſprechen und damit war er fertig. Sollen wir mit chriſtlichem Mitleid auf des armen Men¬ ſchen Unwiſſenheit herabſehen? Ich denke, wir laſſen es bleiben. Ein Perſer auf ſeinem ſchnel¬ len Roß, hinter Tigern durchs Gebirge ſtreifend, Pfeil und Bogen in den ſchlanken Haͤnden, Au¬ gen voll Feuer, trotziges Laͤcheln auf den von Luͤge unentweihten Lippen, das war ein Menſch, auf den die Sonne, die er anbetete, mit Luſt und Wohlgefallen herabſah — wir wuͤrden eine ſchlechte Rolle an ſeiner Seite ſpielen.
Das bloße Wiſſen, meine Herren, hat kein inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche, ſein Stoff zerfließt in Zentillionentheilchen. Wie manche Wiſſenſchaft, ja wie mancher Aſt einer fruͤheren, erfordert gegenwaͤrtig eines Menſchen volles Leben, taͤgliches und naͤchtliches Arbeiten und Lernen, um ſich des Stoffes nur einigermaßen zu
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iſt oft nur Reſultat der Zeit und Umſtaͤnde, bei
Einzelnen, wie bei ganzen Voͤlkern. Es gibt ein
Leben, das dem Griffel der Geſchichte keine Nah¬
rung gibt und dennoch aus der goͤttlichen Quelle
entſprungen iſt, aus der alles Lebendige abſtammt.
Sie wiſſen aus Herodot, wie wenig dazu gehoͤrte,
einem alten Perſer im Sinne ſeines Volkes eine
ſolche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm
ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahr¬
heit ſprechen und damit war er fertig. Sollen
wir mit chriſtlichem Mitleid auf des armen Men¬
ſchen Unwiſſenheit herabſehen? Ich denke, wir
laſſen es bleiben. Ein Perſer auf ſeinem ſchnel¬
len Roß, hinter Tigern durchs Gebirge ſtreifend,
Pfeil und Bogen in den ſchlanken Haͤnden, Au¬
gen voll Feuer, trotziges Laͤcheln auf den von Luͤge
unentweihten Lippen, das war ein Menſch, auf
den die Sonne, die er anbetete, mit Luſt und
Wohlgefallen herabſah — wir wuͤrden eine ſchlechte
Rolle an ſeiner Seite ſpielen.
Das bloße Wiſſen, meine Herren, hat kein
inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche,
ſein Stoff zerfließt in Zentillionentheilchen. Wie
manche Wiſſenſchaft, ja wie mancher Aſt einer
fruͤheren, erfordert gegenwaͤrtig eines Menſchen
volles Leben, taͤgliches und naͤchtliches Arbeiten und
Lernen, um ſich des Stoffes nur einigermaßen zu
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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/83>, abgerufen am 24.11.2024.
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