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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Eilftes Buch, drittes Capitel.
dem Alter erfolgte, worinn Psyche geraubt worden
war, riß die alte Wunde wieder auf; und da ihr durch
diese Umstände das Bild der jungen Psyche immer ge-
genwärtig blieb, so hatte sie desto weniger Mühe, sie
wieder zu erkennen, ungeachtet vierzehn oder fünfzehn
Jahre einige Veränderung in ihren Gesichts-Zügen ge-
macht haben mußten. Unsre Heldin vermehrte also
nunmehr die kleine Familie des alten Fischers, welcher
seinen Aufenthalt veränderte, und in die Gegend von
Tarent zog, wo er sie, weil sie alle unbekannt waren,
für seine Tochter ausgeben konnte. Psyche bequemte
sich so gut in die schlechten Umstände, worinn sie bey
ihrer Pflegmutter leben mußte, als ob sie niemals in
bessern gelebt hätte, und ließ sich nichts angelegner seyn,
als ihr durch emsiges Arbeiten die Last ihres Unterhalts
zu erleichtern. Endlich fügte es sich zufälliger Weise,
daß der junge Critolaus unsre Heldin zu Gesicht be-
kam, welche in ihrem bäurischen, aber reinlichen An-
zug, und mit frischen Blumen geschmükt, demjenigen,
dem sie in einem Hayne begegnete, eher eine von den
Gespielen der Diana, als die Tochter eines armen Fi-
schers scheinen mußte. Critolaus faßte die heftigste
Leidenschaft für sie; weil seine Liebe eben so tugendhaft,
als zärtlich war, so brachte er bald die mitleidige Clo-
narion auf seine Seite; und da Psyche selbst nunmehr
wußte, daß Agathon ihr Bruder sey, so war kein
Grund, warum sie gegen die Zuneigung eines so lie-
benswürdigen jungen Menschen unempfindlich hätte seyn
sollen. Jn der That war Critolaus in mehrern Ab-

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Eilftes Buch, drittes Capitel.
dem Alter erfolgte, worinn Pſyche geraubt worden
war, riß die alte Wunde wieder auf; und da ihr durch
dieſe Umſtaͤnde das Bild der jungen Pſyche immer ge-
genwaͤrtig blieb, ſo hatte ſie deſto weniger Muͤhe, ſie
wieder zu erkennen, ungeachtet vierzehn oder fuͤnfzehn
Jahre einige Veraͤnderung in ihren Geſichts-Zuͤgen ge-
macht haben mußten. Unſre Heldin vermehrte alſo
nunmehr die kleine Familie des alten Fiſchers, welcher
ſeinen Aufenthalt veraͤnderte, und in die Gegend von
Tarent zog, wo er ſie, weil ſie alle unbekannt waren,
fuͤr ſeine Tochter ausgeben konnte. Pſyche bequemte
ſich ſo gut in die ſchlechten Umſtaͤnde, worinn ſie bey
ihrer Pflegmutter leben mußte, als ob ſie niemals in
beſſern gelebt haͤtte, und ließ ſich nichts angelegner ſeyn,
als ihr durch emſiges Arbeiten die Laſt ihres Unterhalts
zu erleichtern. Endlich fuͤgte es ſich zufaͤlliger Weiſe,
daß der junge Critolaus unſre Heldin zu Geſicht be-
kam, welche in ihrem baͤuriſchen, aber reinlichen An-
zug, und mit friſchen Blumen geſchmuͤkt, demjenigen,
dem ſie in einem Hayne begegnete, eher eine von den
Geſpielen der Diana, als die Tochter eines armen Fi-
ſchers ſcheinen mußte. Critolaus faßte die heftigſte
Leidenſchaft fuͤr ſie; weil ſeine Liebe eben ſo tugendhaft,
als zaͤrtlich war, ſo brachte er bald die mitleidige Clo-
narion auf ſeine Seite; und da Pſyche ſelbſt nunmehr
wußte, daß Agathon ihr Bruder ſey, ſo war kein
Grund, warum ſie gegen die Zuneigung eines ſo lie-
benswuͤrdigen jungen Menſchen unempfindlich haͤtte ſeyn
ſollen. Jn der That war Critolaus in mehrern Ab-

ſichten
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[325/0327] Eilftes Buch, drittes Capitel. dem Alter erfolgte, worinn Pſyche geraubt worden war, riß die alte Wunde wieder auf; und da ihr durch dieſe Umſtaͤnde das Bild der jungen Pſyche immer ge- genwaͤrtig blieb, ſo hatte ſie deſto weniger Muͤhe, ſie wieder zu erkennen, ungeachtet vierzehn oder fuͤnfzehn Jahre einige Veraͤnderung in ihren Geſichts-Zuͤgen ge- macht haben mußten. Unſre Heldin vermehrte alſo nunmehr die kleine Familie des alten Fiſchers, welcher ſeinen Aufenthalt veraͤnderte, und in die Gegend von Tarent zog, wo er ſie, weil ſie alle unbekannt waren, fuͤr ſeine Tochter ausgeben konnte. Pſyche bequemte ſich ſo gut in die ſchlechten Umſtaͤnde, worinn ſie bey ihrer Pflegmutter leben mußte, als ob ſie niemals in beſſern gelebt haͤtte, und ließ ſich nichts angelegner ſeyn, als ihr durch emſiges Arbeiten die Laſt ihres Unterhalts zu erleichtern. Endlich fuͤgte es ſich zufaͤlliger Weiſe, daß der junge Critolaus unſre Heldin zu Geſicht be- kam, welche in ihrem baͤuriſchen, aber reinlichen An- zug, und mit friſchen Blumen geſchmuͤkt, demjenigen, dem ſie in einem Hayne begegnete, eher eine von den Geſpielen der Diana, als die Tochter eines armen Fi- ſchers ſcheinen mußte. Critolaus faßte die heftigſte Leidenſchaft fuͤr ſie; weil ſeine Liebe eben ſo tugendhaft, als zaͤrtlich war, ſo brachte er bald die mitleidige Clo- narion auf ſeine Seite; und da Pſyche ſelbſt nunmehr wußte, daß Agathon ihr Bruder ſey, ſo war kein Grund, warum ſie gegen die Zuneigung eines ſo lie- benswuͤrdigen jungen Menſchen unempfindlich haͤtte ſeyn ſollen. Jn der That war Critolaus in mehrern Ab- ſichten X 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/327>, abgerufen am 24.11.2024.