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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
nichts liebenswürdigers sehen konnte. Die Hofnung
des Gewinnsts reizte endlich einige Bösewichter, sie,
da sie ungefehr fünf bis sechs Jahre alt war, heimlich
wegzustehlen, und an die Priesterin zu Delphi zu ver-
kaufen. Ein Halsgeschmeide, woran ein kleines Bild-
nis ihrer Mutter hieng, und womit die junge Psyche
allezeit geschmükt zu seyn pflegte, wurde zugleich mit
ihr verkauft, und diente in der Folge zur Bestätigung,
daß sie würklich die Tochter des Stratonicus sey. Clo-
narion raufte sich einen guten Theil ihrer Haare aus,
da sie ihre Psyche vermißte; und nachdem sie eine ziem-
liche Zeit zugebracht hatte, sie allenthalben (ausser da,
wo sie würklich war,) zu suchen, wußte sie kein an-
der Mittel, sich bey ihrem Herrn von der Schuld ei-
ner strafbarn Nachlässigkeit entledigen zu können, als
vorzugeben, daß sie gestorben sey; und Stratonicus
konnte desto leichter hintergangen werden, weil er da-
mals eben in Geschäfte verwikelt war, welche ihn lange
Zeit hinderten, nach Corinth zu kommen. Jnzwischen
hatte die allenthalben herumirrende Clonarion eine
Menge Abentheuer, welche sich endlich damit endigten,
daß sie die Gattin eines schon ziemlich bejahrten Fi-
schers aus der Gegend von Capua wurde, in dessen
Augen sie damals wenigstens so schön als Thetis und
Galathea war. Sie hatte ihre geliebte Pflegtochter
in so zärtlichem Andenken behalten, daß sie einer Toch-
ter, von der sie selbst entbunden wurde, den Namen
Psyche gab, blos um sich derselben beständig zu erin-
nern. Der Tod dieses Kindes, der beynahe in eben

dem

Agathon.
nichts liebenswuͤrdigers ſehen konnte. Die Hofnung
des Gewinnſts reizte endlich einige Boͤſewichter, ſie,
da ſie ungefehr fuͤnf bis ſechs Jahre alt war, heimlich
wegzuſtehlen, und an die Prieſterin zu Delphi zu ver-
kaufen. Ein Halsgeſchmeide, woran ein kleines Bild-
nis ihrer Mutter hieng, und womit die junge Pſyche
allezeit geſchmuͤkt zu ſeyn pflegte, wurde zugleich mit
ihr verkauft, und diente in der Folge zur Beſtaͤtigung,
daß ſie wuͤrklich die Tochter des Stratonicus ſey. Clo-
narion raufte ſich einen guten Theil ihrer Haare aus,
da ſie ihre Pſyche vermißte; und nachdem ſie eine ziem-
liche Zeit zugebracht hatte, ſie allenthalben (auſſer da,
wo ſie wuͤrklich war,) zu ſuchen, wußte ſie kein an-
der Mittel, ſich bey ihrem Herrn von der Schuld ei-
ner ſtrafbarn Nachlaͤſſigkeit entledigen zu koͤnnen, als
vorzugeben, daß ſie geſtorben ſey; und Stratonicus
konnte deſto leichter hintergangen werden, weil er da-
mals eben in Geſchaͤfte verwikelt war, welche ihn lange
Zeit hinderten, nach Corinth zu kommen. Jnzwiſchen
hatte die allenthalben herumirrende Clonarion eine
Menge Abentheuer, welche ſich endlich damit endigten,
daß ſie die Gattin eines ſchon ziemlich bejahrten Fi-
ſchers aus der Gegend von Capua wurde, in deſſen
Augen ſie damals wenigſtens ſo ſchoͤn als Thetis und
Galathea war. Sie hatte ihre geliebte Pflegtochter
in ſo zaͤrtlichem Andenken behalten, daß ſie einer Toch-
ter, von der ſie ſelbſt entbunden wurde, den Namen
Pſyche gab, blos um ſich derſelben beſtaͤndig zu erin-
nern. Der Tod dieſes Kindes, der beynahe in eben

dem
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[324/0326] Agathon. nichts liebenswuͤrdigers ſehen konnte. Die Hofnung des Gewinnſts reizte endlich einige Boͤſewichter, ſie, da ſie ungefehr fuͤnf bis ſechs Jahre alt war, heimlich wegzuſtehlen, und an die Prieſterin zu Delphi zu ver- kaufen. Ein Halsgeſchmeide, woran ein kleines Bild- nis ihrer Mutter hieng, und womit die junge Pſyche allezeit geſchmuͤkt zu ſeyn pflegte, wurde zugleich mit ihr verkauft, und diente in der Folge zur Beſtaͤtigung, daß ſie wuͤrklich die Tochter des Stratonicus ſey. Clo- narion raufte ſich einen guten Theil ihrer Haare aus, da ſie ihre Pſyche vermißte; und nachdem ſie eine ziem- liche Zeit zugebracht hatte, ſie allenthalben (auſſer da, wo ſie wuͤrklich war,) zu ſuchen, wußte ſie kein an- der Mittel, ſich bey ihrem Herrn von der Schuld ei- ner ſtrafbarn Nachlaͤſſigkeit entledigen zu koͤnnen, als vorzugeben, daß ſie geſtorben ſey; und Stratonicus konnte deſto leichter hintergangen werden, weil er da- mals eben in Geſchaͤfte verwikelt war, welche ihn lange Zeit hinderten, nach Corinth zu kommen. Jnzwiſchen hatte die allenthalben herumirrende Clonarion eine Menge Abentheuer, welche ſich endlich damit endigten, daß ſie die Gattin eines ſchon ziemlich bejahrten Fi- ſchers aus der Gegend von Capua wurde, in deſſen Augen ſie damals wenigſtens ſo ſchoͤn als Thetis und Galathea war. Sie hatte ihre geliebte Pflegtochter in ſo zaͤrtlichem Andenken behalten, daß ſie einer Toch- ter, von der ſie ſelbſt entbunden wurde, den Namen Pſyche gab, blos um ſich derſelben beſtaͤndig zu erin- nern. Der Tod dieſes Kindes, der beynahe in eben dem

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/326>, abgerufen am 29.03.2024.