Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Eilftes Buch, erstes Capitel.
welche entweder gar keine Grundsäze, oder nicht viel
bessere als der weise Hippias, gehabt hätten, nach und
nach auch um diesen kostbaren Ueberrest seine ehemalige
Tugend gebracht zu werden, den er glüklicher Weise aus
der verpesteten Luft der grossen Welt noch davon ge-
bracht hat. Vielleicht hätte er in solchen Umständen
noch immer eine Art von Mittel zwischen Weisheit und
Thorheit, eine mehr lächerliche als hassenswürdige
Composition von kühnem Wiz und unschlüssiger Ver-
nunft, von wahren und willkührlichen Begriffen, von
Aberglauben und Unglauben, von guten und bösen Lei-
denschaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich
betrüglichen Tugenden und Lastern; kurz, eine so vor-
trefliche Art von Geschöpfen werden können, wie un-
gefehr die meisten von uns andern find, wir mögen es
nun einsehen -- und wenn wir's einsehen, eingeste-
hen -- oder nicht. Bey so bewandten Umständen,
und da es (wie gesagt) nun einmal die Absicht des
Autors war, aus seinem Helden einen tugendhaften
Weisen zu machen, und zwar solchergestalt, daß man
ganz deutlich möchte begreiffen können, wie ein solcher
Mann -- so gebohren -- so erzogen -- mit solchen Fä-
higkeiten und Dispositionen -- mit einer solchen beson-
dern Bestimmung derselben -- nach einer solchen Reihe
von Erfahrungen, Entwiklungen und Veränderun-
gen -- in solchen Glüks-Umständen -- an einem solchen
Ort und in einer solchen Zeit -- in einer solchen Ge-
sellschaft -- unter einem solchen Himmels-Strich --
bey solchen Nahrungs-Mitteln (denn auch diese haben

einen
T 5

Eilftes Buch, erſtes Capitel.
welche entweder gar keine Grundſaͤze, oder nicht viel
beſſere als der weiſe Hippias, gehabt haͤtten, nach und
nach auch um dieſen koſtbaren Ueberreſt ſeine ehemalige
Tugend gebracht zu werden, den er gluͤklicher Weiſe aus
der verpeſteten Luft der groſſen Welt noch davon ge-
bracht hat. Vielleicht haͤtte er in ſolchen Umſtaͤnden
noch immer eine Art von Mittel zwiſchen Weisheit und
Thorheit, eine mehr laͤcherliche als haſſenswuͤrdige
Compoſition von kuͤhnem Wiz und unſchluͤſſiger Ver-
nunft, von wahren und willkuͤhrlichen Begriffen, von
Aberglauben und Unglauben, von guten und boͤſen Lei-
denſchaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich
betruͤglichen Tugenden und Laſtern; kurz, eine ſo vor-
trefliche Art von Geſchoͤpfen werden koͤnnen, wie un-
gefehr die meiſten von uns andern find, wir moͤgen es
nun einſehen ‒‒ und wenn wir’s einſehen, eingeſte-
hen ‒‒ oder nicht. Bey ſo bewandten Umſtaͤnden,
und da es (wie geſagt) nun einmal die Abſicht des
Autors war, aus ſeinem Helden einen tugendhaften
Weiſen zu machen, und zwar ſolchergeſtalt, daß man
ganz deutlich moͤchte begreiffen koͤnnen, wie ein ſolcher
Mann ‒‒ ſo gebohren ‒‒ ſo erzogen ‒‒ mit ſolchen Faͤ-
higkeiten und Diſpoſitionen ‒‒ mit einer ſolchen beſon-
dern Beſtimmung derſelben ‒‒ nach einer ſolchen Reihe
von Erfahrungen, Entwiklungen und Veraͤnderun-
gen ‒‒ in ſolchen Gluͤks-Umſtaͤnden ‒‒ an einem ſolchen
Ort und in einer ſolchen Zeit ‒‒ in einer ſolchen Ge-
ſellſchaft ‒‒ unter einem ſolchen Himmels-Strich ‒‒
bey ſolchen Nahrungs-Mitteln (denn auch dieſe haben

einen
T 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0299" n="297"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Eilftes Buch, er&#x017F;tes Capitel.</hi></fw><lb/>
welche entweder gar keine Grund&#x017F;a&#x0364;ze, oder nicht viel<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ere als der wei&#x017F;e Hippias, gehabt ha&#x0364;tten, nach und<lb/>
nach auch um die&#x017F;en ko&#x017F;tbaren Ueberre&#x017F;t &#x017F;eine ehemalige<lb/>
Tugend gebracht zu werden, den er glu&#x0364;klicher Wei&#x017F;e aus<lb/>
der verpe&#x017F;teten Luft der gro&#x017F;&#x017F;en Welt noch davon ge-<lb/>
bracht hat. Vielleicht ha&#x0364;tte er in &#x017F;olchen Um&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
noch immer eine Art von Mittel zwi&#x017F;chen Weisheit und<lb/>
Thorheit, eine mehr la&#x0364;cherliche als ha&#x017F;&#x017F;enswu&#x0364;rdige<lb/>
Compo&#x017F;ition von ku&#x0364;hnem Wiz und un&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;iger Ver-<lb/>
nunft, von wahren und willku&#x0364;hrlichen Begriffen, von<lb/>
Aberglauben und Unglauben, von guten und bo&#x0364;&#x017F;en Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich<lb/>
betru&#x0364;glichen Tugenden und La&#x017F;tern; kurz, eine &#x017F;o vor-<lb/>
trefliche Art von Ge&#x017F;cho&#x0364;pfen werden ko&#x0364;nnen, wie un-<lb/>
gefehr die mei&#x017F;ten von uns andern find, wir mo&#x0364;gen es<lb/>
nun ein&#x017F;ehen &#x2012;&#x2012; und wenn wir&#x2019;s ein&#x017F;ehen, einge&#x017F;te-<lb/>
hen &#x2012;&#x2012; oder nicht. Bey &#x017F;o bewandten Um&#x017F;ta&#x0364;nden,<lb/>
und da es (wie ge&#x017F;agt) nun einmal die Ab&#x017F;icht des<lb/>
Autors war, aus &#x017F;einem Helden einen tugendhaften<lb/>
Wei&#x017F;en zu machen, und zwar &#x017F;olcherge&#x017F;talt, daß man<lb/>
ganz deutlich mo&#x0364;chte begreiffen ko&#x0364;nnen, wie ein &#x017F;olcher<lb/>
Mann &#x2012;&#x2012; &#x017F;o gebohren &#x2012;&#x2012; &#x017F;o erzogen &#x2012;&#x2012; mit &#x017F;olchen Fa&#x0364;-<lb/>
higkeiten und Di&#x017F;po&#x017F;itionen &#x2012;&#x2012; mit einer &#x017F;olchen be&#x017F;on-<lb/>
dern Be&#x017F;timmung der&#x017F;elben &#x2012;&#x2012; nach einer &#x017F;olchen Reihe<lb/>
von Erfahrungen, Entwiklungen und Vera&#x0364;nderun-<lb/>
gen &#x2012;&#x2012; in &#x017F;olchen Glu&#x0364;ks-Um&#x017F;ta&#x0364;nden &#x2012;&#x2012; an einem &#x017F;olchen<lb/>
Ort und in einer &#x017F;olchen Zeit &#x2012;&#x2012; in einer &#x017F;olchen Ge-<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x2012;&#x2012; unter einem &#x017F;olchen Himmels-Strich &#x2012;&#x2012;<lb/>
bey &#x017F;olchen Nahrungs-Mitteln (denn auch die&#x017F;e haben<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">T 5</fw><fw place="bottom" type="catch">einen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0299] Eilftes Buch, erſtes Capitel. welche entweder gar keine Grundſaͤze, oder nicht viel beſſere als der weiſe Hippias, gehabt haͤtten, nach und nach auch um dieſen koſtbaren Ueberreſt ſeine ehemalige Tugend gebracht zu werden, den er gluͤklicher Weiſe aus der verpeſteten Luft der groſſen Welt noch davon ge- bracht hat. Vielleicht haͤtte er in ſolchen Umſtaͤnden noch immer eine Art von Mittel zwiſchen Weisheit und Thorheit, eine mehr laͤcherliche als haſſenswuͤrdige Compoſition von kuͤhnem Wiz und unſchluͤſſiger Ver- nunft, von wahren und willkuͤhrlichen Begriffen, von Aberglauben und Unglauben, von guten und boͤſen Lei- denſchaften, Gewohnheiten und Launen, von gleich betruͤglichen Tugenden und Laſtern; kurz, eine ſo vor- trefliche Art von Geſchoͤpfen werden koͤnnen, wie un- gefehr die meiſten von uns andern find, wir moͤgen es nun einſehen ‒‒ und wenn wir’s einſehen, eingeſte- hen ‒‒ oder nicht. Bey ſo bewandten Umſtaͤnden, und da es (wie geſagt) nun einmal die Abſicht des Autors war, aus ſeinem Helden einen tugendhaften Weiſen zu machen, und zwar ſolchergeſtalt, daß man ganz deutlich moͤchte begreiffen koͤnnen, wie ein ſolcher Mann ‒‒ ſo gebohren ‒‒ ſo erzogen ‒‒ mit ſolchen Faͤ- higkeiten und Diſpoſitionen ‒‒ mit einer ſolchen beſon- dern Beſtimmung derſelben ‒‒ nach einer ſolchen Reihe von Erfahrungen, Entwiklungen und Veraͤnderun- gen ‒‒ in ſolchen Gluͤks-Umſtaͤnden ‒‒ an einem ſolchen Ort und in einer ſolchen Zeit ‒‒ in einer ſolchen Ge- ſellſchaft ‒‒ unter einem ſolchen Himmels-Strich ‒‒ bey ſolchen Nahrungs-Mitteln (denn auch dieſe haben einen T 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/299
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/299>, abgerufen am 26.04.2024.