Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehentes Buch, fünftes Capitel.
desto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war,
sie nach dem Exempel der Meisten, die sich in dieser
Schwierigkeit befinden, mit dem ersten Besten, es
möchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm sonst in
die Hände fiele, seyn, auszustopfen. Jndeß hatten doch
damals seine vorigen Lieblings-Jdeen noch einen star-
ken Anhang in seinem Herzen, und er beruhigte sich,
auf die Eingebungen desselben hin, mit der Hofnung,
daß es ihm, sobald er in ruhigere Umstände käme,
leicht seyn würde, die Harmonie zwischen seinem Kopf
und seinem Herzen vollkommen wieder herzustellen. Allein
die Geschäfte und die Zerstreuungen, welche zu Syra-
cus alle seine Zeit verschlangen, hatten ihn genöthigt,
eine für ihn so wichtige Arbeit lange genug aufzuschie-
ben, um sie durch immer neu hervorbrechende Schwie-
rigkeiten ungleich schwerer zu machen, als sie anfangs
gewesen wäre. Die ungereimte und lächerliche Seite
der menschlichen Meynungen, Leidenschaften, und Ge-
wohnheiten ist gemeiniglich die erste, welche sie einem
Manne von Verstand und Wiz zeigen, der die Musse
nicht hat, sie mit anhaltender Aufmerksamkeit zu be-
trachten. Agathon gewöhnte sich also unvermerkt an
diese Art, die Sachen anzuschauen; die natürliche Hei-
terkeit und Lebhaftigkeit seiner Sinnesart disponirte
ihn ohnehin dazu; und die Syracusaner, deren Cha-
racter eine Vermischung des Atheniensischen und Corinthi-
schen, oder eine Composition von den widersprechende-
sten Eigenschaften, welche ein Volk nur immer haben
kan, ausmachte -- und ein Hof, wie Dionysens Hof
war --- versahen ihn so reichlich mit comischen Cha-

ractern,

Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
deſto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war,
ſie nach dem Exempel der Meiſten, die ſich in dieſer
Schwierigkeit befinden, mit dem erſten Beſten, es
moͤchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm ſonſt in
die Haͤnde fiele, ſeyn, auszuſtopfen. Jndeß hatten doch
damals ſeine vorigen Lieblings-Jdeen noch einen ſtar-
ken Anhang in ſeinem Herzen, und er beruhigte ſich,
auf die Eingebungen deſſelben hin, mit der Hofnung,
daß es ihm, ſobald er in ruhigere Umſtaͤnde kaͤme,
leicht ſeyn wuͤrde, die Harmonie zwiſchen ſeinem Kopf
und ſeinem Herzen vollkommen wieder herzuſtellen. Allein
die Geſchaͤfte und die Zerſtreuungen, welche zu Syra-
cus alle ſeine Zeit verſchlangen, hatten ihn genoͤthigt,
eine fuͤr ihn ſo wichtige Arbeit lange genug aufzuſchie-
ben, um ſie durch immer neu hervorbrechende Schwie-
rigkeiten ungleich ſchwerer zu machen, als ſie anfangs
geweſen waͤre. Die ungereimte und laͤcherliche Seite
der menſchlichen Meynungen, Leidenſchaften, und Ge-
wohnheiten iſt gemeiniglich die erſte, welche ſie einem
Manne von Verſtand und Wiz zeigen, der die Muſſe
nicht hat, ſie mit anhaltender Aufmerkſamkeit zu be-
trachten. Agathon gewoͤhnte ſich alſo unvermerkt an
dieſe Art, die Sachen anzuſchauen; die natuͤrliche Hei-
terkeit und Lebhaftigkeit ſeiner Sinnesart diſponirte
ihn ohnehin dazu; und die Syracuſaner, deren Cha-
racter eine Vermiſchung des Athenienſiſchen und Corinthi-
ſchen, oder eine Compoſition von den widerſprechende-
ſten Eigenſchaften, welche ein Volk nur immer haben
kan, ausmachte ‒‒ und ein Hof, wie Dionyſens Hof
war ‒‒‒ verſahen ihn ſo reichlich mit comiſchen Cha-

ractern,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0287" n="285"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zehentes Buch, fu&#x0364;nftes Capitel.</hi></fw><lb/>
de&#x017F;to mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war,<lb/>
&#x017F;ie nach dem Exempel der Mei&#x017F;ten, die &#x017F;ich in die&#x017F;er<lb/>
Schwierigkeit befinden, mit dem er&#x017F;ten Be&#x017F;ten, es<lb/>
mo&#x0364;chte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm &#x017F;on&#x017F;t in<lb/>
die Ha&#x0364;nde fiele, &#x017F;eyn, auszu&#x017F;topfen. Jndeß hatten doch<lb/>
damals &#x017F;eine vorigen Lieblings-Jdeen noch einen &#x017F;tar-<lb/>
ken Anhang in &#x017F;einem Herzen, und er beruhigte &#x017F;ich,<lb/>
auf die Eingebungen de&#x017F;&#x017F;elben hin, mit der Hofnung,<lb/>
daß es ihm, &#x017F;obald er in ruhigere Um&#x017F;ta&#x0364;nde ka&#x0364;me,<lb/>
leicht &#x017F;eyn wu&#x0364;rde, die Harmonie zwi&#x017F;chen &#x017F;einem Kopf<lb/>
und &#x017F;einem Herzen vollkommen wieder herzu&#x017F;tellen. Allein<lb/>
die Ge&#x017F;cha&#x0364;fte und die Zer&#x017F;treuungen, welche zu Syra-<lb/>
cus alle &#x017F;eine Zeit ver&#x017F;chlangen, hatten ihn geno&#x0364;thigt,<lb/>
eine fu&#x0364;r ihn &#x017F;o wichtige Arbeit lange genug aufzu&#x017F;chie-<lb/>
ben, um &#x017F;ie durch immer neu hervorbrechende Schwie-<lb/>
rigkeiten ungleich &#x017F;chwerer zu machen, als &#x017F;ie anfangs<lb/>
gewe&#x017F;en wa&#x0364;re. Die ungereimte und la&#x0364;cherliche Seite<lb/>
der men&#x017F;chlichen Meynungen, Leiden&#x017F;chaften, und Ge-<lb/>
wohnheiten i&#x017F;t gemeiniglich die er&#x017F;te, welche &#x017F;ie einem<lb/>
Manne von Ver&#x017F;tand und Wiz zeigen, der die Mu&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nicht hat, &#x017F;ie mit anhaltender Aufmerk&#x017F;amkeit zu be-<lb/>
trachten. Agathon gewo&#x0364;hnte &#x017F;ich al&#x017F;o unvermerkt an<lb/>
die&#x017F;e Art, die Sachen anzu&#x017F;chauen; die natu&#x0364;rliche Hei-<lb/>
terkeit und Lebhaftigkeit &#x017F;einer Sinnesart di&#x017F;ponirte<lb/>
ihn ohnehin dazu; und die Syracu&#x017F;aner, deren Cha-<lb/>
racter eine Vermi&#x017F;chung des Athenien&#x017F;i&#x017F;chen und Corinthi-<lb/>
&#x017F;chen, oder eine Compo&#x017F;ition von den wider&#x017F;prechende-<lb/>
&#x017F;ten Eigen&#x017F;chaften, welche ein Volk nur immer haben<lb/>
kan, ausmachte &#x2012;&#x2012; und ein Hof, wie Diony&#x017F;ens Hof<lb/>
war &#x2012;&#x2012;&#x2012; ver&#x017F;ahen ihn &#x017F;o reichlich mit comi&#x017F;chen Cha-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ractern,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[285/0287] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. deſto mehr Sorge machten, je weniger er geneigt war, ſie nach dem Exempel der Meiſten, die ſich in dieſer Schwierigkeit befinden, mit dem erſten Beſten, es moͤchte Stroh, Leimen, Lumpen oder was ihm ſonſt in die Haͤnde fiele, ſeyn, auszuſtopfen. Jndeß hatten doch damals ſeine vorigen Lieblings-Jdeen noch einen ſtar- ken Anhang in ſeinem Herzen, und er beruhigte ſich, auf die Eingebungen deſſelben hin, mit der Hofnung, daß es ihm, ſobald er in ruhigere Umſtaͤnde kaͤme, leicht ſeyn wuͤrde, die Harmonie zwiſchen ſeinem Kopf und ſeinem Herzen vollkommen wieder herzuſtellen. Allein die Geſchaͤfte und die Zerſtreuungen, welche zu Syra- cus alle ſeine Zeit verſchlangen, hatten ihn genoͤthigt, eine fuͤr ihn ſo wichtige Arbeit lange genug aufzuſchie- ben, um ſie durch immer neu hervorbrechende Schwie- rigkeiten ungleich ſchwerer zu machen, als ſie anfangs geweſen waͤre. Die ungereimte und laͤcherliche Seite der menſchlichen Meynungen, Leidenſchaften, und Ge- wohnheiten iſt gemeiniglich die erſte, welche ſie einem Manne von Verſtand und Wiz zeigen, der die Muſſe nicht hat, ſie mit anhaltender Aufmerkſamkeit zu be- trachten. Agathon gewoͤhnte ſich alſo unvermerkt an dieſe Art, die Sachen anzuſchauen; die natuͤrliche Hei- terkeit und Lebhaftigkeit ſeiner Sinnesart diſponirte ihn ohnehin dazu; und die Syracuſaner, deren Cha- racter eine Vermiſchung des Athenienſiſchen und Corinthi- ſchen, oder eine Compoſition von den widerſprechende- ſten Eigenſchaften, welche ein Volk nur immer haben kan, ausmachte ‒‒ und ein Hof, wie Dionyſens Hof war ‒‒‒ verſahen ihn ſo reichlich mit comiſchen Cha- ractern,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/287
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/287>, abgerufen am 23.04.2024.