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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
den alles sich bezieht, und dessen Glük oder Fall alles
entscheidet. Alles ist groß, wichtig, interessant, wenn
die Hauptperson wichtig ist, und eine grosse Rolle zu
spielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held
ist, was kann das ganze Stük anders seyn, als eine
Farce?

Man erinnert sich vermuthlich noch der Zweifel,
worinn sich Agathon verwikelt fand, als er die bezau-
berten Ufer von Jonien verließ, wo er, vielleicht zu
seinem Vortheil, erfahren hatte, daß die Jdeen, welche
sich in den Haynen zu Delphi seiner jugendlichen Seele
bemächtiget, und durch den Unterricht und Umgang
des göttlichen Platons zu Athen noch mehr darinn be-
festiget hatten, ihm bey einer Gelegenheit, wo er sich
mit vollkommner Sicherheit auf ihre Stärke und be-
schüzende Kraft verlassen hatte, mehr nachtheilig als nüz-
lich gewesen waren, ja sich endlich (zu einem billigen
Verdacht gegen ihre Realität) von ganz entgegengesez-
ten so unmerklich und gutwillig hatten verdrängen las-
sen, daß er die Veränderung nicht eher wahrgenom-
men, als da sie schon völlig zu Stande gekommen war.
Agathon hatte damals keine Zeit, dieser Zweifel wegen
mit sich selbst einig zu werden; er glaubte zwar, oder
hofte vielmehr überhaupt, daß dasjenige was in seinen
vormaligen Grundsäzen wahres sey, sich mit seinen
neuerlangten Begriffen sehr wol vereinigen lassen werde --
aber er sah doch noch nicht deutlich genug, wie? -- und
wurde beym ersten Anblik Lüken gewahr, welche ihm

desto

Agathon.
den alles ſich bezieht, und deſſen Gluͤk oder Fall alles
entſcheidet. Alles iſt groß, wichtig, intereſſant, wenn
die Hauptperſon wichtig iſt, und eine groſſe Rolle zu
ſpielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held
iſt, was kann das ganze Stuͤk anders ſeyn, als eine
Farce?

Man erinnert ſich vermuthlich noch der Zweifel,
worinn ſich Agathon verwikelt fand, als er die bezau-
berten Ufer von Jonien verließ, wo er, vielleicht zu
ſeinem Vortheil, erfahren hatte, daß die Jdeen, welche
ſich in den Haynen zu Delphi ſeiner jugendlichen Seele
bemaͤchtiget, und durch den Unterricht und Umgang
des goͤttlichen Platons zu Athen noch mehr darinn be-
feſtiget hatten, ihm bey einer Gelegenheit, wo er ſich
mit vollkommner Sicherheit auf ihre Staͤrke und be-
ſchuͤzende Kraft verlaſſen hatte, mehr nachtheilig als nuͤz-
lich geweſen waren, ja ſich endlich (zu einem billigen
Verdacht gegen ihre Realitaͤt) von ganz entgegengeſez-
ten ſo unmerklich und gutwillig hatten verdraͤngen laſ-
ſen, daß er die Veraͤnderung nicht eher wahrgenom-
men, als da ſie ſchon voͤllig zu Stande gekommen war.
Agathon hatte damals keine Zeit, dieſer Zweifel wegen
mit ſich ſelbſt einig zu werden; er glaubte zwar, oder
hofte vielmehr uͤberhaupt, daß dasjenige was in ſeinen
vormaligen Grundſaͤzen wahres ſey, ſich mit ſeinen
neuerlangten Begriffen ſehr wol vereinigen laſſen werde ‒‒
aber er ſah doch noch nicht deutlich genug, wie? ‒‒ und
wurde beym erſten Anblik Luͤken gewahr, welche ihm

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[284/0286] Agathon. den alles ſich bezieht, und deſſen Gluͤk oder Fall alles entſcheidet. Alles iſt groß, wichtig, intereſſant, wenn die Hauptperſon wichtig iſt, und eine groſſe Rolle zu ſpielen hat; aber wenn Scapin oder Harlekin der Held iſt, was kann das ganze Stuͤk anders ſeyn, als eine Farce? Man erinnert ſich vermuthlich noch der Zweifel, worinn ſich Agathon verwikelt fand, als er die bezau- berten Ufer von Jonien verließ, wo er, vielleicht zu ſeinem Vortheil, erfahren hatte, daß die Jdeen, welche ſich in den Haynen zu Delphi ſeiner jugendlichen Seele bemaͤchtiget, und durch den Unterricht und Umgang des goͤttlichen Platons zu Athen noch mehr darinn be- feſtiget hatten, ihm bey einer Gelegenheit, wo er ſich mit vollkommner Sicherheit auf ihre Staͤrke und be- ſchuͤzende Kraft verlaſſen hatte, mehr nachtheilig als nuͤz- lich geweſen waren, ja ſich endlich (zu einem billigen Verdacht gegen ihre Realitaͤt) von ganz entgegengeſez- ten ſo unmerklich und gutwillig hatten verdraͤngen laſ- ſen, daß er die Veraͤnderung nicht eher wahrgenom- men, als da ſie ſchon voͤllig zu Stande gekommen war. Agathon hatte damals keine Zeit, dieſer Zweifel wegen mit ſich ſelbſt einig zu werden; er glaubte zwar, oder hofte vielmehr uͤberhaupt, daß dasjenige was in ſeinen vormaligen Grundſaͤzen wahres ſey, ſich mit ſeinen neuerlangten Begriffen ſehr wol vereinigen laſſen werde ‒‒ aber er ſah doch noch nicht deutlich genug, wie? ‒‒ und wurde beym erſten Anblik Luͤken gewahr, welche ihm deſto

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/286>, abgerufen am 23.04.2024.