Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Zehentes Buch, fünftes Capitel. und idealisch von der menschlichen Natur dachte, alszu Delphi; denn es macht einen beträchtlichen Unterschied, ob man unter Bildsäulen von Göttern und Helden, oder unter Menschen lebt; aber nachdem er die Beobachtun- gen, die er zu Athen und Smyrna schon gesammelt, noch durch die nähere Bekanntschaft mit den Grossen, und mit den Hofleuten bereichert hatte, sank seine Mey- nung von der angebohrnen Schönheit und Würde die- ser menschlichen Natur, von Grade zu Grade so tief, daß er zuweilen in Versuchung gerieth, gegen die Stimme seines Herzens (welche eben so wol, dachte er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurtheils seyn könnte,) alles was der göttliche Plato erhabenes und herrliches davon gesagt und geschrieben hatte, für Mährchen aus einer andern Welt zu halten. Unver- merkt kamen ihm die Begriffe, welche sich Hippias da- von machte, nicht mehr so ungeheuer vor, als damals, da er sich in den Garten dieses wollüstigen Weisen in den Mondschein hinsezte, und Betrachtungen über den Zustand der entkörperten Geister anstellte. Endlich kam es gar so weit, daß ihm diese Begriffe wahrscheinlich genug däuchten, um sich vorstellen zu können, wie Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das ihnen eine edlere Meynung von ihrer Natur zu geben geschikt wäre, durch einen langen Umgang mit der Welt dazu gelangen könnten, sich gänzlich von der Wahrheit desselben zu überreden. Soweit [Agath. II. Th.] S
Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. und idealiſch von der menſchlichen Natur dachte, alszu Delphi; denn es macht einen betraͤchtlichen Unterſchied, ob man unter Bildſaͤulen von Goͤttern und Helden, oder unter Menſchen lebt; aber nachdem er die Beobachtun- gen, die er zu Athen und Smyrna ſchon geſammelt, noch durch die naͤhere Bekanntſchaft mit den Groſſen, und mit den Hofleuten bereichert hatte, ſank ſeine Mey- nung von der angebohrnen Schoͤnheit und Wuͤrde die- ſer menſchlichen Natur, von Grade zu Grade ſo tief, daß er zuweilen in Verſuchung gerieth, gegen die Stimme ſeines Herzens (welche eben ſo wol, dachte er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurtheils ſeyn koͤnnte,) alles was der goͤttliche Plato erhabenes und herrliches davon geſagt und geſchrieben hatte, fuͤr Maͤhrchen aus einer andern Welt zu halten. Unver- merkt kamen ihm die Begriffe, welche ſich Hippias da- von machte, nicht mehr ſo ungeheuer vor, als damals, da er ſich in den Garten dieſes wolluͤſtigen Weiſen in den Mondſchein hinſezte, und Betrachtungen uͤber den Zuſtand der entkoͤrperten Geiſter anſtellte. Endlich kam es gar ſo weit, daß ihm dieſe Begriffe wahrſcheinlich genug daͤuchten, um ſich vorſtellen zu koͤnnen, wie Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das ihnen eine edlere Meynung von ihrer Natur zu geben geſchikt waͤre, durch einen langen Umgang mit der Welt dazu gelangen koͤnnten, ſich gaͤnzlich von der Wahrheit deſſelben zu uͤberreden. Soweit [Agath. II. Th.] S
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0275" n="273"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.</hi></fw><lb/> und idealiſch von der menſchlichen Natur dachte, als<lb/> zu Delphi; denn es macht einen betraͤchtlichen Unterſchied,<lb/> ob man unter Bildſaͤulen von Goͤttern und Helden, oder<lb/> unter Menſchen lebt; aber nachdem er die Beobachtun-<lb/> gen, die er zu Athen und Smyrna ſchon geſammelt,<lb/> noch durch die naͤhere Bekanntſchaft mit den Groſſen,<lb/> und mit den Hofleuten bereichert hatte, ſank ſeine Mey-<lb/> nung von der angebohrnen Schoͤnheit und Wuͤrde die-<lb/> ſer menſchlichen Natur, von Grade zu Grade ſo tief,<lb/> daß er zuweilen in Verſuchung gerieth, gegen die<lb/> Stimme ſeines Herzens (welche eben ſo wol, dachte<lb/> er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurtheils<lb/> ſeyn koͤnnte,) alles was der goͤttliche Plato erhabenes<lb/> und herrliches davon geſagt und geſchrieben hatte, fuͤr<lb/> Maͤhrchen aus einer andern Welt zu halten. Unver-<lb/> merkt kamen ihm die Begriffe, welche ſich Hippias da-<lb/> von machte, nicht mehr ſo ungeheuer vor, als damals,<lb/> da er ſich in den Garten dieſes wolluͤſtigen Weiſen in<lb/> den Mondſchein hinſezte, und Betrachtungen uͤber den<lb/> Zuſtand der entkoͤrperten Geiſter anſtellte. Endlich kam<lb/> es gar ſo weit, daß ihm dieſe Begriffe wahrſcheinlich<lb/> genug daͤuchten, um ſich vorſtellen zu koͤnnen, wie<lb/> Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das<lb/> ihnen eine edlere Meynung von ihrer Natur zu geben<lb/> geſchikt waͤre, durch einen langen Umgang mit der<lb/> Welt dazu gelangen koͤnnten, ſich gaͤnzlich von der<lb/> Wahrheit deſſelben zu uͤberreden.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig">[Agath. <hi rendition="#aq">II.</hi> Th.] S</fw> <fw place="bottom" type="catch">Soweit</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [273/0275]
Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.
und idealiſch von der menſchlichen Natur dachte, als
zu Delphi; denn es macht einen betraͤchtlichen Unterſchied,
ob man unter Bildſaͤulen von Goͤttern und Helden, oder
unter Menſchen lebt; aber nachdem er die Beobachtun-
gen, die er zu Athen und Smyrna ſchon geſammelt,
noch durch die naͤhere Bekanntſchaft mit den Groſſen,
und mit den Hofleuten bereichert hatte, ſank ſeine Mey-
nung von der angebohrnen Schoͤnheit und Wuͤrde die-
ſer menſchlichen Natur, von Grade zu Grade ſo tief,
daß er zuweilen in Verſuchung gerieth, gegen die
Stimme ſeines Herzens (welche eben ſo wol, dachte
er, die Stimme der Eigenliebe oder des Vorurtheils
ſeyn koͤnnte,) alles was der goͤttliche Plato erhabenes
und herrliches davon geſagt und geſchrieben hatte, fuͤr
Maͤhrchen aus einer andern Welt zu halten. Unver-
merkt kamen ihm die Begriffe, welche ſich Hippias da-
von machte, nicht mehr ſo ungeheuer vor, als damals,
da er ſich in den Garten dieſes wolluͤſtigen Weiſen in
den Mondſchein hinſezte, und Betrachtungen uͤber den
Zuſtand der entkoͤrperten Geiſter anſtellte. Endlich kam
es gar ſo weit, daß ihm dieſe Begriffe wahrſcheinlich
genug daͤuchten, um ſich vorſtellen zu koͤnnen, wie
Leute, die in ihrem eigenen Herzen nichts fanden, das
ihnen eine edlere Meynung von ihrer Natur zu geben
geſchikt waͤre, durch einen langen Umgang mit der
Welt dazu gelangen koͤnnten, ſich gaͤnzlich von der
Wahrheit deſſelben zu uͤberreden.
Soweit
[Agath. II. Th.] S
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |