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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.

Soweit hätte Agathon gehen können, ohne die Gren-
zen der weisen Mässigung zu überschreiten, welche uns
in unsern Urtheilen über diesen wichtigen Gegenstand,
und alles was sich auf ihn bezieht, langsam und zurük-
haltend machen sollen. Aber in Stunden, da der
Unmuth seine schönsten Hofnungen durch die Thorheit
oder Boßheit derjenigen mit denen er leben mußte, vor
seinen Augen vernichten zu sehen, eine mehr als ge-
wöhnliche Verdüsterung in seiner Seele verursachte,
gieng er noch um einen Schritt weiter. Nein, sagte
er dann zu sich selbst, die Menschen sind nicht wofür
ich sie hielt, da ich sie nach mir selbst, und mich selbst
nach den jugendlichen Empfindungen eines gefühlvollen
Herzens, und nach einer noch ungeprüften Unschuld beur-
theilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmste,
was Hippias von ihnen sagte; und wenn sie nichts bes-
sers sind, was für Ursache habe ich, mich darüber zu
beschweren, daß sie sich nicht nach Grundsäzen behandeln
lassen, die in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur stehen?
An mir war der Fehler, an mir, der einen Mercur
aus einem knottichten Feigenstok schnizeln wollte. Sagte
er mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu gewar-
ten hätte, wenn ich den Plan meines Lebens nach
meinen Jdeen einrichten würde. Seine Vorhersagung
hätte nicht richtiger eintreffen können. Hätte ich seinen
Grundsäzen gefolgt, hätte ich mich ehmals zu Athen,
oder hier zu Syracus so betragen, wie Hippias an
meinem Plaze gethan haben würde -- so würde ich
meine Absichten ausgeführt haben; so würde ich glük-

lich
Agathon.

Soweit haͤtte Agathon gehen koͤnnen, ohne die Gren-
zen der weiſen Maͤſſigung zu uͤberſchreiten, welche uns
in unſern Urtheilen uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand,
und alles was ſich auf ihn bezieht, langſam und zuruͤk-
haltend machen ſollen. Aber in Stunden, da der
Unmuth ſeine ſchoͤnſten Hofnungen durch die Thorheit
oder Boßheit derjenigen mit denen er leben mußte, vor
ſeinen Augen vernichten zu ſehen, eine mehr als ge-
woͤhnliche Verduͤſterung in ſeiner Seele verurſachte,
gieng er noch um einen Schritt weiter. Nein, ſagte
er dann zu ſich ſelbſt, die Menſchen ſind nicht wofuͤr
ich ſie hielt, da ich ſie nach mir ſelbſt, und mich ſelbſt
nach den jugendlichen Empfindungen eines gefuͤhlvollen
Herzens, und nach einer noch ungepruͤften Unſchuld beur-
theilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmſte,
was Hippias von ihnen ſagte; und wenn ſie nichts beſ-
ſers ſind, was fuͤr Urſache habe ich, mich daruͤber zu
beſchweren, daß ſie ſich nicht nach Grundſaͤzen behandeln
laſſen, die in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur ſtehen?
An mir war der Fehler, an mir, der einen Mercur
aus einem knottichten Feigenſtok ſchnizeln wollte. Sagte
er mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu gewar-
ten haͤtte, wenn ich den Plan meines Lebens nach
meinen Jdeen einrichten wuͤrde. Seine Vorherſagung
haͤtte nicht richtiger eintreffen koͤnnen. Haͤtte ich ſeinen
Grundſaͤzen gefolgt, haͤtte ich mich ehmals zu Athen,
oder hier zu Syracus ſo betragen, wie Hippias an
meinem Plaze gethan haben wuͤrde ‒‒ ſo wuͤrde ich
meine Abſichten ausgefuͤhrt haben; ſo wuͤrde ich gluͤk-

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[274/0276] Agathon. Soweit haͤtte Agathon gehen koͤnnen, ohne die Gren- zen der weiſen Maͤſſigung zu uͤberſchreiten, welche uns in unſern Urtheilen uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand, und alles was ſich auf ihn bezieht, langſam und zuruͤk- haltend machen ſollen. Aber in Stunden, da der Unmuth ſeine ſchoͤnſten Hofnungen durch die Thorheit oder Boßheit derjenigen mit denen er leben mußte, vor ſeinen Augen vernichten zu ſehen, eine mehr als ge- woͤhnliche Verduͤſterung in ſeiner Seele verurſachte, gieng er noch um einen Schritt weiter. Nein, ſagte er dann zu ſich ſelbſt, die Menſchen ſind nicht wofuͤr ich ſie hielt, da ich ſie nach mir ſelbſt, und mich ſelbſt nach den jugendlichen Empfindungen eines gefuͤhlvollen Herzens, und nach einer noch ungepruͤften Unſchuld beur- theilte. Meine Erfahrungen rechtfertigen das Schlimmſte, was Hippias von ihnen ſagte; und wenn ſie nichts beſ- ſers ſind, was fuͤr Urſache habe ich, mich daruͤber zu beſchweren, daß ſie ſich nicht nach Grundſaͤzen behandeln laſſen, die in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur ſtehen? An mir war der Fehler, an mir, der einen Mercur aus einem knottichten Feigenſtok ſchnizeln wollte. Sagte er mir nicht vorher, daß ich nichts anders zu gewar- ten haͤtte, wenn ich den Plan meines Lebens nach meinen Jdeen einrichten wuͤrde. Seine Vorherſagung haͤtte nicht richtiger eintreffen koͤnnen. Haͤtte ich ſeinen Grundſaͤzen gefolgt, haͤtte ich mich ehmals zu Athen, oder hier zu Syracus ſo betragen, wie Hippias an meinem Plaze gethan haben wuͤrde ‒‒ ſo wuͤrde ich meine Abſichten ausgefuͤhrt haben; ſo wuͤrde ich gluͤk- lich

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/276>, abgerufen am 27.04.2024.