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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
Charactern und Sitten urtheilt, ohne die sieben Thürme
gesehen, oder der Vermählung des Doge von Venedig
mit dem adriatischen Meer beygewohnt zu haben. Wir
wissen nicht, wie groß ungefehr die Anzahl der so ge-
nanuten Welt-Leute seyn mag, die in diese Classe ge-
hören: Aber das scheint uns gewiß zu seyn, daß ein
Mann von Genie und aufgeklärtem Verstande (denn
die blosse Empirie reicht hier so wenig zu, als in irgend
einer andern practischen Wissenschaft) durch das Leben
in der grossen Welt, (in so fern wir dieses Wort in
seiner ächten Bedeutung nehmen) durch die Verhält-
nisse, worinn er an einem beträchtlichen Plaze mit al-
len Arten von Ständen und Charactern kömmt, durch
die häuffigen Gelegenheiten die er hat, diejenige so er
beobachtet, unter allerley Umständen, mit und ohne
Maske zusehen, sie auf allerley Proben zu sezen, und
so wol durch den Gebrauch, den man von ihnen macht,
als den sie von andern zu machen suchen, ihre herrschen-
den Neigungen und geheime Springfedern ausfündig
zu machen -- daß er dadurch zu einer unmittelbarern,
ausgebreitetern und richtigern Kenntniß der Menschen
gelangt, als andre, welche ihre Theorie lediglich den
Geschichtschreibern, Metaphysikern und Moralisten
(drey sehr wenig zuverlässigen Gattungen von Lehrern)
zu danken -- oder welche ihre Beobachtungen nur in
dem Microcosmus ihres eigenen Selbst angestellt haben.

Es ist oben schon bemerkt worden, daß Agathon
bey seinem Auftritt auf dem Schauplaz, von dem er
nun wieder abgetreten ist, lange nicht mehr so erhaben

und

Agathon.
Charactern und Sitten urtheilt, ohne die ſieben Thuͤrme
geſehen, oder der Vermaͤhlung des Doge von Venedig
mit dem adriatiſchen Meer beygewohnt zu haben. Wir
wiſſen nicht, wie groß ungefehr die Anzahl der ſo ge-
nanuten Welt-Leute ſeyn mag, die in dieſe Claſſe ge-
hoͤren: Aber das ſcheint uns gewiß zu ſeyn, daß ein
Mann von Genie und aufgeklaͤrtem Verſtande (denn
die bloſſe Empirie reicht hier ſo wenig zu, als in irgend
einer andern practiſchen Wiſſenſchaft) durch das Leben
in der groſſen Welt, (in ſo fern wir dieſes Wort in
ſeiner aͤchten Bedeutung nehmen) durch die Verhaͤlt-
niſſe, worinn er an einem betraͤchtlichen Plaze mit al-
len Arten von Staͤnden und Charactern koͤmmt, durch
die haͤuffigen Gelegenheiten die er hat, diejenige ſo er
beobachtet, unter allerley Umſtaͤnden, mit und ohne
Maske zuſehen, ſie auf allerley Proben zu ſezen, und
ſo wol durch den Gebrauch, den man von ihnen macht,
als den ſie von andern zu machen ſuchen, ihre herrſchen-
den Neigungen und geheime Springfedern ausfuͤndig
zu machen ‒‒ daß er dadurch zu einer unmittelbarern,
ausgebreitetern und richtigern Kenntniß der Menſchen
gelangt, als andre, welche ihre Theorie lediglich den
Geſchichtſchreibern, Metaphyſikern und Moraliſten
(drey ſehr wenig zuverlaͤſſigen Gattungen von Lehrern)
zu danken ‒‒ oder welche ihre Beobachtungen nur in
dem Microcoſmus ihres eigenen Selbſt angeſtellt haben.

Es iſt oben ſchon bemerkt worden, daß Agathon
bey ſeinem Auftritt auf dem Schauplaz, von dem er
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[272/0274] Agathon. Charactern und Sitten urtheilt, ohne die ſieben Thuͤrme geſehen, oder der Vermaͤhlung des Doge von Venedig mit dem adriatiſchen Meer beygewohnt zu haben. Wir wiſſen nicht, wie groß ungefehr die Anzahl der ſo ge- nanuten Welt-Leute ſeyn mag, die in dieſe Claſſe ge- hoͤren: Aber das ſcheint uns gewiß zu ſeyn, daß ein Mann von Genie und aufgeklaͤrtem Verſtande (denn die bloſſe Empirie reicht hier ſo wenig zu, als in irgend einer andern practiſchen Wiſſenſchaft) durch das Leben in der groſſen Welt, (in ſo fern wir dieſes Wort in ſeiner aͤchten Bedeutung nehmen) durch die Verhaͤlt- niſſe, worinn er an einem betraͤchtlichen Plaze mit al- len Arten von Staͤnden und Charactern koͤmmt, durch die haͤuffigen Gelegenheiten die er hat, diejenige ſo er beobachtet, unter allerley Umſtaͤnden, mit und ohne Maske zuſehen, ſie auf allerley Proben zu ſezen, und ſo wol durch den Gebrauch, den man von ihnen macht, als den ſie von andern zu machen ſuchen, ihre herrſchen- den Neigungen und geheime Springfedern ausfuͤndig zu machen ‒‒ daß er dadurch zu einer unmittelbarern, ausgebreitetern und richtigern Kenntniß der Menſchen gelangt, als andre, welche ihre Theorie lediglich den Geſchichtſchreibern, Metaphyſikern und Moraliſten (drey ſehr wenig zuverlaͤſſigen Gattungen von Lehrern) zu danken ‒‒ oder welche ihre Beobachtungen nur in dem Microcoſmus ihres eigenen Selbſt angeſtellt haben. Es iſt oben ſchon bemerkt worden, daß Agathon bey ſeinem Auftritt auf dem Schauplaz, von dem er nun wieder abgetreten iſt, lange nicht mehr ſo erhaben und

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/274>, abgerufen am 27.04.2024.