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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, fünftes Capitel.

Es ist unstreitig einer der grössesten Vortheile, wo
nicht der einzige, den ein denkender Mensch aus dem
Leben in der grossen Welt mit sich nimmt, wofern es
ihm jemals so gut wird, sich wieder aus derselben her-
auswinden zu können -- daß er die Menschen darinn
kennen gelernt hat. Es läßt sich zwar gegen diese Art
von Kenntniß der Menschen, aus guten Gründen eben
so viel einwenden, als gegen diejenige, welche man aus
der Geschichte, und den Schriften der Dichter, Sit-
tenlehrer, Satyristen und Romanenmacher zieht --
oder gegen irgend eine andere: Aber man muß hinge-
gen auch gestehen, daß sie wenigstens eben so zuver-
lässig ist, als irgend eine andre; ja daß sie es noch in
einem höhern Grade ist, wenn anders das Subject,
bey dem sie sich befindet, mit allen den Eigenschaften
versehen ist, die zu einem Beobachter erfordert werden.
Denn freylich kan nichts lächerlicher seyn als ein Gek,
der nachdem er zehn oder fünfzehn Jahre seine Figur
durch alle Länder und Höfe der Welt herumgeführt,
etliche Duzend zweydeutige Tugenden besiegt, und eben
so viel schaale Histörchen oder verdächtige Beyträge zur
Chronique scandaleuse eines jeden Ortes, wo er gewe-
sen ist, zusammengebracht hat, mit deren Hülfe er
zween oder drey Tage eine Tischgesellschaft lachen oder
gähnen machen kan -- sich selbst mit dem Besiz einer voll-
kommenen Kenntniß der Welt und der Menschen schmei-
chelt, und denjenigen mit dummem Hohnlächeln von der
Seite ansieht, der vermöge einer vieljährigen tieffen Er-
forschung der menschlichen Natur, gelegenheitlich von

Charactern
Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel.

Es iſt unſtreitig einer der groͤſſeſten Vortheile, wo
nicht der einzige, den ein denkender Menſch aus dem
Leben in der groſſen Welt mit ſich nimmt, wofern es
ihm jemals ſo gut wird, ſich wieder aus derſelben her-
auswinden zu koͤnnen ‒‒ daß er die Menſchen darinn
kennen gelernt hat. Es laͤßt ſich zwar gegen dieſe Art
von Kenntniß der Menſchen, aus guten Gruͤnden eben
ſo viel einwenden, als gegen diejenige, welche man aus
der Geſchichte, und den Schriften der Dichter, Sit-
tenlehrer, Satyriſten und Romanenmacher zieht ‒‒
oder gegen irgend eine andere: Aber man muß hinge-
gen auch geſtehen, daß ſie wenigſtens eben ſo zuver-
laͤſſig iſt, als irgend eine andre; ja daß ſie es noch in
einem hoͤhern Grade iſt, wenn anders das Subject,
bey dem ſie ſich befindet, mit allen den Eigenſchaften
verſehen iſt, die zu einem Beobachter erfordert werden.
Denn freylich kan nichts laͤcherlicher ſeyn als ein Gek,
der nachdem er zehn oder fuͤnfzehn Jahre ſeine Figur
durch alle Laͤnder und Hoͤfe der Welt herumgefuͤhrt,
etliche Duzend zweydeutige Tugenden beſiegt, und eben
ſo viel ſchaale Hiſtoͤrchen oder verdaͤchtige Beytraͤge zur
Chronique ſcandaleuſe eines jeden Ortes, wo er gewe-
ſen iſt, zuſammengebracht hat, mit deren Huͤlfe er
zween oder drey Tage eine Tiſchgeſellſchaft lachen oder
gaͤhnen machen kan ‒‒ ſich ſelbſt mit dem Beſiz einer voll-
kommenen Kenntniß der Welt und der Menſchen ſchmei-
chelt, und denjenigen mit dummem Hohnlaͤcheln von der
Seite anſieht, der vermoͤge einer vieljaͤhrigen tieffen Er-
forſchung der menſchlichen Natur, gelegenheitlich von

Charactern
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[271/0273] Zehentes Buch, fuͤnftes Capitel. Es iſt unſtreitig einer der groͤſſeſten Vortheile, wo nicht der einzige, den ein denkender Menſch aus dem Leben in der groſſen Welt mit ſich nimmt, wofern es ihm jemals ſo gut wird, ſich wieder aus derſelben her- auswinden zu koͤnnen ‒‒ daß er die Menſchen darinn kennen gelernt hat. Es laͤßt ſich zwar gegen dieſe Art von Kenntniß der Menſchen, aus guten Gruͤnden eben ſo viel einwenden, als gegen diejenige, welche man aus der Geſchichte, und den Schriften der Dichter, Sit- tenlehrer, Satyriſten und Romanenmacher zieht ‒‒ oder gegen irgend eine andere: Aber man muß hinge- gen auch geſtehen, daß ſie wenigſtens eben ſo zuver- laͤſſig iſt, als irgend eine andre; ja daß ſie es noch in einem hoͤhern Grade iſt, wenn anders das Subject, bey dem ſie ſich befindet, mit allen den Eigenſchaften verſehen iſt, die zu einem Beobachter erfordert werden. Denn freylich kan nichts laͤcherlicher ſeyn als ein Gek, der nachdem er zehn oder fuͤnfzehn Jahre ſeine Figur durch alle Laͤnder und Hoͤfe der Welt herumgefuͤhrt, etliche Duzend zweydeutige Tugenden beſiegt, und eben ſo viel ſchaale Hiſtoͤrchen oder verdaͤchtige Beytraͤge zur Chronique ſcandaleuſe eines jeden Ortes, wo er gewe- ſen iſt, zuſammengebracht hat, mit deren Huͤlfe er zween oder drey Tage eine Tiſchgeſellſchaft lachen oder gaͤhnen machen kan ‒‒ ſich ſelbſt mit dem Beſiz einer voll- kommenen Kenntniß der Welt und der Menſchen ſchmei- chelt, und denjenigen mit dummem Hohnlaͤcheln von der Seite anſieht, der vermoͤge einer vieljaͤhrigen tieffen Er- forſchung der menſchlichen Natur, gelegenheitlich von Charactern

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/273>, abgerufen am 28.03.2024.