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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Zehentes Buch, erstes Capitel.
in die Augen, daß die unmässige Liebe, welche sie ihm
beygebracht, sehr viel von ihrer ersten Heftigkeit ver-
lohren hatte. Es würde vielleicht nicht schwer gehalten
haben, die Würkung seiner natürlichen Unbeständig-
keit um etliche Wochen zu beschleunigen. Aber Agathon
hatte Bedenklichkeiten, die ihm wichtig genug schienen,
ihn davon abzuhalten. Die Gemalin des Prinzen war
in keinerley Betrachtung dazu gemacht, einen Versuch,
ihn in die Grenzen der ehlichen Liebe einzuschränken, zu
unterstüzen. Dionys konnte nicht ohne Liebeshändel
leben; und die Gewalt, welche seine Maitressen über
sein Herz hatten, machte seine Unbeständigkeit gefähr-
lich. Bacchidion war eines von diesen gutartigen fröh-
lichen Geschöpfen, in deren Phantasie alles rosenfarb
ist, und welche keine andre Sorge in der Welt haben,
als ihr Daseyn von einem Augenblik zum andern weg-
zuscherzen, ohne sich jemals einen Gedanken von Ehr-
geiz und Habsucht, oder einigen Kummer über die Zu-
kunft anfechten zu lassen. Sie liebte das Vergnügen
über alles; immer aufgelegt es zu geben und zu neh-
men, schien es unter ihren Tritten aufzusprossen; es
lachte aus ihren Augen, und athmete aus ihren Lippen.
Ohne daran zu denken, sich durch die Leidenschaft des
Prinzen für sie wichtig zu machen, hatte sie aus einer
Art von mechanischer Neigung, vergnügte Gesichter zu
sehen, ihre Gewalt über sein Herz schon mehrmalen
dazu verwandt, Leuten die es verdienten, oder auch
nicht verdienten (denn darüber ließ sie sich in keine Un-
tersuchung ein) gutes zu thun. Agathon besorgte, daß

ihre
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Zehentes Buch, erſtes Capitel.
in die Augen, daß die unmaͤſſige Liebe, welche ſie ihm
beygebracht, ſehr viel von ihrer erſten Heftigkeit ver-
lohren hatte. Es wuͤrde vielleicht nicht ſchwer gehalten
haben, die Wuͤrkung ſeiner natuͤrlichen Unbeſtaͤndig-
keit um etliche Wochen zu beſchleunigen. Aber Agathon
hatte Bedenklichkeiten, die ihm wichtig genug ſchienen,
ihn davon abzuhalten. Die Gemalin des Prinzen war
in keinerley Betrachtung dazu gemacht, einen Verſuch,
ihn in die Grenzen der ehlichen Liebe einzuſchraͤnken, zu
unterſtuͤzen. Dionys konnte nicht ohne Liebeshaͤndel
leben; und die Gewalt, welche ſeine Maitreſſen uͤber
ſein Herz hatten, machte ſeine Unbeſtaͤndigkeit gefaͤhr-
lich. Bacchidion war eines von dieſen gutartigen froͤh-
lichen Geſchoͤpfen, in deren Phantaſie alles roſenfarb
iſt, und welche keine andre Sorge in der Welt haben,
als ihr Daſeyn von einem Augenblik zum andern weg-
zuſcherzen, ohne ſich jemals einen Gedanken von Ehr-
geiz und Habſucht, oder einigen Kummer uͤber die Zu-
kunft anfechten zu laſſen. Sie liebte das Vergnuͤgen
uͤber alles; immer aufgelegt es zu geben und zu neh-
men, ſchien es unter ihren Tritten aufzuſproſſen; es
lachte aus ihren Augen, und athmete aus ihren Lippen.
Ohne daran zu denken, ſich durch die Leidenſchaft des
Prinzen fuͤr ſie wichtig zu machen, hatte ſie aus einer
Art von mechaniſcher Neigung, vergnuͤgte Geſichter zu
ſehen, ihre Gewalt uͤber ſein Herz ſchon mehrmalen
dazu verwandt, Leuten die es verdienten, oder auch
nicht verdienten (denn daruͤber ließ ſie ſich in keine Un-
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ihre
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[201/0203] Zehentes Buch, erſtes Capitel. in die Augen, daß die unmaͤſſige Liebe, welche ſie ihm beygebracht, ſehr viel von ihrer erſten Heftigkeit ver- lohren hatte. Es wuͤrde vielleicht nicht ſchwer gehalten haben, die Wuͤrkung ſeiner natuͤrlichen Unbeſtaͤndig- keit um etliche Wochen zu beſchleunigen. Aber Agathon hatte Bedenklichkeiten, die ihm wichtig genug ſchienen, ihn davon abzuhalten. Die Gemalin des Prinzen war in keinerley Betrachtung dazu gemacht, einen Verſuch, ihn in die Grenzen der ehlichen Liebe einzuſchraͤnken, zu unterſtuͤzen. Dionys konnte nicht ohne Liebeshaͤndel leben; und die Gewalt, welche ſeine Maitreſſen uͤber ſein Herz hatten, machte ſeine Unbeſtaͤndigkeit gefaͤhr- lich. Bacchidion war eines von dieſen gutartigen froͤh- lichen Geſchoͤpfen, in deren Phantaſie alles roſenfarb iſt, und welche keine andre Sorge in der Welt haben, als ihr Daſeyn von einem Augenblik zum andern weg- zuſcherzen, ohne ſich jemals einen Gedanken von Ehr- geiz und Habſucht, oder einigen Kummer uͤber die Zu- kunft anfechten zu laſſen. Sie liebte das Vergnuͤgen uͤber alles; immer aufgelegt es zu geben und zu neh- men, ſchien es unter ihren Tritten aufzuſproſſen; es lachte aus ihren Augen, und athmete aus ihren Lippen. Ohne daran zu denken, ſich durch die Leidenſchaft des Prinzen fuͤr ſie wichtig zu machen, hatte ſie aus einer Art von mechaniſcher Neigung, vergnuͤgte Geſichter zu ſehen, ihre Gewalt uͤber ſein Herz ſchon mehrmalen dazu verwandt, Leuten die es verdienten, oder auch nicht verdienten (denn daruͤber ließ ſie ſich in keine Un- terſuchung ein) gutes zu thun. Agathon beſorgte, daß ihre N 5

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/203>, abgerufen am 28.03.2024.