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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
Volk sich demüthiglich gefallen lassen müsse, was die
Edeln und Reichen, ihrem besondern Jnteresse gemäß,
schlössen und handelten; oder wenn das Volk selbst den
Gesezgeber und Richter mache, kein ehrlicher Mann
sicher sey, daß er nicht morgen das Opfer derjenigen
seyn werde, denen seine Verdienste im Wege stehen,
oder die durch sein Ansehen und Vermögen reicher und
grösser zu werden hoffeten. Jn keinem andern Staat
sey es weniger erlaubt von seinen Fähigkeiten Gebrauch
zu machen, selbst zu denken, und über wichtige Gegen-
stände dasjenige was man für gemeinnüzlich halte, ohne
Gefahr, bekannt werden zu lassen; alle Vorschläge zu
Verbesserungen würden unter dem verhaßten Namen der
Neuerungen verworfen, und zögen ihren Urhebern ge-
heime oder öffentliche Verfolgungen zu. Selbst die
Grundpfeiler der menschlichen Glükseligkeit, und das-
jenige, was den gesitteten Menschen eigentlich von dem
Wilden und Barbaren unterscheide, Wahrheit, Tugend,
Wissenschaften, und die liebenswürdigen Künste der Mu-
sen, seyen in diesen Staaten verdächtig oder gar verhaßt;
würden durch tausend im Finstern schleichende Mittel
entkräftet, an ihrem Fortgang verhindert, oder doch
gewiß weder aufgemuntert noch belohnt; und allein zu
Unterstüzung der herrschenden Vorurtheile und Miß-
bräuche verurtheilt -- Doch genug! -- wir haben zu
viel Ursache günstiger von freyen Staaten zu denken --
wenn es auch nur darum wäre, weil wir die Ehre ha-
ben unter einer Nation zu leben, deren Verfassung
selbst republicanisch ist, und in der That die wunder-

barste

Agathon.
Volk ſich demuͤthiglich gefallen laſſen muͤſſe, was die
Edeln und Reichen, ihrem beſondern Jntereſſe gemaͤß,
ſchloͤſſen und handelten; oder wenn das Volk ſelbſt den
Geſezgeber und Richter mache, kein ehrlicher Mann
ſicher ſey, daß er nicht morgen das Opfer derjenigen
ſeyn werde, denen ſeine Verdienſte im Wege ſtehen,
oder die durch ſein Anſehen und Vermoͤgen reicher und
groͤſſer zu werden hoffeten. Jn keinem andern Staat
ſey es weniger erlaubt von ſeinen Faͤhigkeiten Gebrauch
zu machen, ſelbſt zu denken, und uͤber wichtige Gegen-
ſtaͤnde dasjenige was man fuͤr gemeinnuͤzlich halte, ohne
Gefahr, bekannt werden zu laſſen; alle Vorſchlaͤge zu
Verbeſſerungen wuͤrden unter dem verhaßten Namen der
Neuerungen verworfen, und zoͤgen ihren Urhebern ge-
heime oder oͤffentliche Verfolgungen zu. Selbſt die
Grundpfeiler der menſchlichen Gluͤkſeligkeit, und das-
jenige, was den geſitteten Menſchen eigentlich von dem
Wilden und Barbaren unterſcheide, Wahrheit, Tugend,
Wiſſenſchaften, und die liebenswuͤrdigen Kuͤnſte der Mu-
ſen, ſeyen in dieſen Staaten verdaͤchtig oder gar verhaßt;
wuͤrden durch tauſend im Finſtern ſchleichende Mittel
entkraͤftet, an ihrem Fortgang verhindert, oder doch
gewiß weder aufgemuntert noch belohnt; und allein zu
Unterſtuͤzung der herrſchenden Vorurtheile und Miß-
braͤuche verurtheilt ‒‒ Doch genug! ‒‒ wir haben zu
viel Urſache guͤnſtiger von freyen Staaten zu denken ‒‒
wenn es auch nur darum waͤre, weil wir die Ehre ha-
ben unter einer Nation zu leben, deren Verfaſſung
ſelbſt republicaniſch iſt, und in der That die wunder-

barſte
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[180/0182] Agathon. Volk ſich demuͤthiglich gefallen laſſen muͤſſe, was die Edeln und Reichen, ihrem beſondern Jntereſſe gemaͤß, ſchloͤſſen und handelten; oder wenn das Volk ſelbſt den Geſezgeber und Richter mache, kein ehrlicher Mann ſicher ſey, daß er nicht morgen das Opfer derjenigen ſeyn werde, denen ſeine Verdienſte im Wege ſtehen, oder die durch ſein Anſehen und Vermoͤgen reicher und groͤſſer zu werden hoffeten. Jn keinem andern Staat ſey es weniger erlaubt von ſeinen Faͤhigkeiten Gebrauch zu machen, ſelbſt zu denken, und uͤber wichtige Gegen- ſtaͤnde dasjenige was man fuͤr gemeinnuͤzlich halte, ohne Gefahr, bekannt werden zu laſſen; alle Vorſchlaͤge zu Verbeſſerungen wuͤrden unter dem verhaßten Namen der Neuerungen verworfen, und zoͤgen ihren Urhebern ge- heime oder oͤffentliche Verfolgungen zu. Selbſt die Grundpfeiler der menſchlichen Gluͤkſeligkeit, und das- jenige, was den geſitteten Menſchen eigentlich von dem Wilden und Barbaren unterſcheide, Wahrheit, Tugend, Wiſſenſchaften, und die liebenswuͤrdigen Kuͤnſte der Mu- ſen, ſeyen in dieſen Staaten verdaͤchtig oder gar verhaßt; wuͤrden durch tauſend im Finſtern ſchleichende Mittel entkraͤftet, an ihrem Fortgang verhindert, oder doch gewiß weder aufgemuntert noch belohnt; und allein zu Unterſtuͤzung der herrſchenden Vorurtheile und Miß- braͤuche verurtheilt ‒‒ Doch genug! ‒‒ wir haben zu viel Urſache guͤnſtiger von freyen Staaten zu denken ‒‒ wenn es auch nur darum waͤre, weil wir die Ehre ha- ben unter einer Nation zu leben, deren Verfaſſung ſelbſt republicaniſch iſt, und in der That die wunder- barſte

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/182>, abgerufen am 26.04.2024.