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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, fünftes Capitel.
von unfichtbaren und durch verjährten Aberglauben ge-
heiligten Gözen sey, an denen nichts als der Name
verehrt werde; daß man in diesen Staaten einen still-
schweigenden Vertrag mit einander gemacht zu haben
scheine, sich durch den Namen und ein gewisses Phan-
tom von Gerechtigkeit, Mässigung, Uneigennüzigkeit,
Liebe des Vaterlandes und des gemeinen Besten von ein-
ander betrügen zu lassen; und daß unter der Maske die-
ser politischen Heucheley, unter dem ehrwürdigen Namen
aller dieser Tugenden, das Gegentheil derselben nirgends
unverschämter ausgeübt werde. Es würden, meynte
er, eine Menge besonderer Umstände, welche sich in et-
lichen tausend Jahren kaum einmal in irgend einem
Winkel des Erdbodens zusammensinden könnten, dazu
erfordert, um eine Republik in dieser Mittelmässigkeit
zu erhalten, ohne welche sie von keinem Bestand seyn
könne: Und daher daß dieser Fall so selten sey, und
von so vielen zufälligen Ursachen abhange, komme es,
daß die meisten Republiken entweder zu schwach wären,
ihren Bürgern die mindeste Sicherheit zu gewähren;
oder daß sie nach einer Grösse strebten, welche nach
einer Folge von Mißhelligkeiten, Cabalen, Verschwörun-
gen und Bürgerkriegen endlich den Untergang des Staats
nach sich ziehe, und demjenigen, welcher Meister vom
Kampf-Plaze bliebe, nichts als Einöden zu bevölkern
und Ruinen wieder anfzubauen überlasse. So gar die
Freyheit, auf welche diese Staaten mit Ausschluß aller
andern Anspruch machten, finde kaum in den despoti-
schen Reichen Asiens weniger Plaz; weil entweder das

Volk
M 2

Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
von unfichtbaren und durch verjaͤhrten Aberglauben ge-
heiligten Goͤzen ſey, an denen nichts als der Name
verehrt werde; daß man in dieſen Staaten einen ſtill-
ſchweigenden Vertrag mit einander gemacht zu haben
ſcheine, ſich durch den Namen und ein gewiſſes Phan-
tom von Gerechtigkeit, Maͤſſigung, Uneigennuͤzigkeit,
Liebe des Vaterlandes und des gemeinen Beſten von ein-
ander betruͤgen zu laſſen; und daß unter der Maske die-
ſer politiſchen Heucheley, unter dem ehrwuͤrdigen Namen
aller dieſer Tugenden, das Gegentheil derſelben nirgends
unverſchaͤmter ausgeuͤbt werde. Es wuͤrden, meynte
er, eine Menge beſonderer Umſtaͤnde, welche ſich in et-
lichen tauſend Jahren kaum einmal in irgend einem
Winkel des Erdbodens zuſammenſinden koͤnnten, dazu
erfordert, um eine Republik in dieſer Mittelmaͤſſigkeit
zu erhalten, ohne welche ſie von keinem Beſtand ſeyn
koͤnne: Und daher daß dieſer Fall ſo ſelten ſey, und
von ſo vielen zufaͤlligen Urſachen abhange, komme es,
daß die meiſten Republiken entweder zu ſchwach waͤren,
ihren Buͤrgern die mindeſte Sicherheit zu gewaͤhren;
oder daß ſie nach einer Groͤſſe ſtrebten, welche nach
einer Folge von Mißhelligkeiten, Cabalen, Verſchwoͤrun-
gen und Buͤrgerkriegen endlich den Untergang des Staats
nach ſich ziehe, und demjenigen, welcher Meiſter vom
Kampf-Plaze bliebe, nichts als Einoͤden zu bevoͤlkern
und Ruinen wieder anfzubauen uͤberlaſſe. So gar die
Freyheit, auf welche dieſe Staaten mit Ausſchluß aller
andern Anſpruch machten, finde kaum in den deſpoti-
ſchen Reichen Aſiens weniger Plaz; weil entweder das

Volk
M 2
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[179/0181] Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. von unfichtbaren und durch verjaͤhrten Aberglauben ge- heiligten Goͤzen ſey, an denen nichts als der Name verehrt werde; daß man in dieſen Staaten einen ſtill- ſchweigenden Vertrag mit einander gemacht zu haben ſcheine, ſich durch den Namen und ein gewiſſes Phan- tom von Gerechtigkeit, Maͤſſigung, Uneigennuͤzigkeit, Liebe des Vaterlandes und des gemeinen Beſten von ein- ander betruͤgen zu laſſen; und daß unter der Maske die- ſer politiſchen Heucheley, unter dem ehrwuͤrdigen Namen aller dieſer Tugenden, das Gegentheil derſelben nirgends unverſchaͤmter ausgeuͤbt werde. Es wuͤrden, meynte er, eine Menge beſonderer Umſtaͤnde, welche ſich in et- lichen tauſend Jahren kaum einmal in irgend einem Winkel des Erdbodens zuſammenſinden koͤnnten, dazu erfordert, um eine Republik in dieſer Mittelmaͤſſigkeit zu erhalten, ohne welche ſie von keinem Beſtand ſeyn koͤnne: Und daher daß dieſer Fall ſo ſelten ſey, und von ſo vielen zufaͤlligen Urſachen abhange, komme es, daß die meiſten Republiken entweder zu ſchwach waͤren, ihren Buͤrgern die mindeſte Sicherheit zu gewaͤhren; oder daß ſie nach einer Groͤſſe ſtrebten, welche nach einer Folge von Mißhelligkeiten, Cabalen, Verſchwoͤrun- gen und Buͤrgerkriegen endlich den Untergang des Staats nach ſich ziehe, und demjenigen, welcher Meiſter vom Kampf-Plaze bliebe, nichts als Einoͤden zu bevoͤlkern und Ruinen wieder anfzubauen uͤberlaſſe. So gar die Freyheit, auf welche dieſe Staaten mit Ausſchluß aller andern Anſpruch machten, finde kaum in den deſpoti- ſchen Reichen Aſiens weniger Plaz; weil entweder das Volk M 2

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/181>, abgerufen am 26.04.2024.