Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Neuntes Buch, fünftes Capitel. gen, brachte er den grössesten Theil der Nacht in ei-nem Mittelstand zwischen Entschliessung und Ungewiß- heit zu, bis er endlich mit sich selbst einig wurde, es darauf ankommen zu lassen, wozu ihn die Umstände be- stimmen würden. Jnzwischen machte er sich auf den Fall, wenn ihn Dionys an seinen Hof zu ziehen suchen sollte, einen Verwaltungs Plan; er stellte sich eine Menge Zufälle vor, welche begegnen konnten, und sezte die Maßregeln bey sich selbst feste, nach welchen er in allen diesen Umständen handeln wollte. Die genaueste Verbindung der Klugheit mit der Rechtschaffenheit war die Seele davon. Sein eigner Vortheil kam dabey in gar keine Betrachtung; dieser Punct lag durch aus zum Grunde seines ganzen Systems; er wollte sich durch keine Art von Banden fesseln lassen, sondern immer die Freyheit behalten, sich so bald er sehen würde, daß er vergeblich arbeite, mit Ehre zurükzuziehen. Das war die einzige Rüksicht, die er dabey auf sich selbst machte. Die lebhafte Abneigung, die er, aus eigener Erfah- rung gegen alle populare Regierungs-Arten gefaßt hatte, ließ ihn nicht daran denken, den Sicilianern zu einer Freyheit behülflich zu seyn, welche er für einen blossen Namen hielt, unter dessen Schuz die Edeln eines Vol- tes und der Pöbel einander wechselweise ärger Tyranni- siren als es irgend ein Tyrann zu thun fähig ist; der so arg er immer seyn mag, doch durch seinen eigenen Vortheil abgehalten wird, seine Sclaven gänzlich auf- zureiben; -- da hingegen der Pöbel, wenn er die Ge- walt einmal an sich gerissen hat, seinen wilden Be- gungen [Agath. II. Th.] L
Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel. gen, brachte er den groͤſſeſten Theil der Nacht in ei-nem Mittelſtand zwiſchen Entſchlieſſung und Ungewiß- heit zu, bis er endlich mit ſich ſelbſt einig wurde, es darauf ankommen zu laſſen, wozu ihn die Umſtaͤnde be- ſtimmen wuͤrden. Jnzwiſchen machte er ſich auf den Fall, wenn ihn Dionys an ſeinen Hof zu ziehen ſuchen ſollte, einen Verwaltungs Plan; er ſtellte ſich eine Menge Zufaͤlle vor, welche begegnen konnten, und ſezte die Maßregeln bey ſich ſelbſt feſte, nach welchen er in allen dieſen Umſtaͤnden handeln wollte. Die genaueſte Verbindung der Klugheit mit der Rechtſchaffenheit war die Seele davon. Sein eigner Vortheil kam dabey in gar keine Betrachtung; dieſer Punct lag durch aus zum Grunde ſeines ganzen Syſtems; er wollte ſich durch keine Art von Banden feſſeln laſſen, ſondern immer die Freyheit behalten, ſich ſo bald er ſehen wuͤrde, daß er vergeblich arbeite, mit Ehre zuruͤkzuziehen. Das war die einzige Ruͤkſicht, die er dabey auf ſich ſelbſt machte. Die lebhafte Abneigung, die er, aus eigener Erfah- rung gegen alle populare Regierungs-Arten gefaßt hatte, ließ ihn nicht daran denken, den Sicilianern zu einer Freyheit behuͤlflich zu ſeyn, welche er fuͤr einen bloſſen Namen hielt, unter deſſen Schuz die Edeln eines Vol- tes und der Poͤbel einander wechſelweiſe aͤrger Tyranni- ſiren als es irgend ein Tyrann zu thun faͤhig iſt; der ſo arg er immer ſeyn mag, doch durch ſeinen eigenen Vortheil abgehalten wird, ſeine Sclaven gaͤnzlich auf- zureiben; ‒‒ da hingegen der Poͤbel, wenn er die Ge- walt einmal an ſich geriſſen hat, ſeinen wilden Be- gungen [Agath. II. Th.] L
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Neuntes Buch, fuͤnftes Capitel.
gen, brachte er den groͤſſeſten Theil der Nacht in ei-
nem Mittelſtand zwiſchen Entſchlieſſung und Ungewiß-
heit zu, bis er endlich mit ſich ſelbſt einig wurde, es
darauf ankommen zu laſſen, wozu ihn die Umſtaͤnde be-
ſtimmen wuͤrden. Jnzwiſchen machte er ſich auf den
Fall, wenn ihn Dionys an ſeinen Hof zu ziehen ſuchen
ſollte, einen Verwaltungs Plan; er ſtellte ſich eine
Menge Zufaͤlle vor, welche begegnen konnten, und
ſezte die Maßregeln bey ſich ſelbſt feſte, nach welchen er
in allen dieſen Umſtaͤnden handeln wollte. Die genaueſte
Verbindung der Klugheit mit der Rechtſchaffenheit war
die Seele davon. Sein eigner Vortheil kam dabey in
gar keine Betrachtung; dieſer Punct lag durch aus zum
Grunde ſeines ganzen Syſtems; er wollte ſich durch
keine Art von Banden feſſeln laſſen, ſondern immer die
Freyheit behalten, ſich ſo bald er ſehen wuͤrde, daß er
vergeblich arbeite, mit Ehre zuruͤkzuziehen. Das war
die einzige Ruͤkſicht, die er dabey auf ſich ſelbſt machte.
Die lebhafte Abneigung, die er, aus eigener Erfah-
rung gegen alle populare Regierungs-Arten gefaßt hatte,
ließ ihn nicht daran denken, den Sicilianern zu einer
Freyheit behuͤlflich zu ſeyn, welche er fuͤr einen bloſſen
Namen hielt, unter deſſen Schuz die Edeln eines Vol-
tes und der Poͤbel einander wechſelweiſe aͤrger Tyranni-
ſiren als es irgend ein Tyrann zu thun faͤhig iſt; der
ſo arg er immer ſeyn mag, doch durch ſeinen eigenen
Vortheil abgehalten wird, ſeine Sclaven gaͤnzlich auf-
zureiben; ‒‒ da hingegen der Poͤbel, wenn er die Ge-
walt einmal an ſich geriſſen hat, ſeinen wilden Be-
gungen
[Agath. II. Th.] L
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Zitationshilfe: | Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/163>, abgerufen am 16.02.2025. |