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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
chen, daß er nicht so war, wie er ihrer Einbildung zu
lieb hätte seyn sollen, liehen sie ihm noch einige Feh-
ler, die er nicht hatte, und verringerten den Werth der
schönen Eigenschaften, welche er entweder nicht verber-
gen konnte, oder nicht verbergen wollte; gewöhnliches
Verfahren der kleinen Geister, wodurch sie sich unter
einander in der tröstlichen Beredung zu stärken suchen,
daß kein so grosser Unterscheid, oder vielleicht gar kei-
ner, zwischen ihnen und den Agathonen sey -- und wer
wird so unbillig seyn, und ihnen das übel nehmen?

Sobald sich unser Mann allein sah, überließ er sich
den Betrachtungen, die in seiner gegenwärtigen Stel-
lung die natürlichsten waren. Sein erster Gedanke, so-
bald er gehört hatte, daß Plato entfernt, und Dionys
wieder in der Gewalt seiner ehemaligen Günstlinge und
einer neuangekommenen Tänzerin sey, war gewesen, sich
nur wenige Tage bey seinem Freunde verborgen zu hal-
ten, und sodann nach Jtalien überzufahren, wo er ver-
schiedne Ursachen hatte zu hoffen, daß er in dem Hause
des berühmten Archytas zu Tarent willkommen seyn
würde. Allein die Unterredung mit dem Aristippus
hatte ihn auf andre Gedanken gebracht. Je mehr er
dasjenige, was ihm dieser Philosoph von den Ursachen
der vorgegangenen Veränderungen gesagt hatte, über-
legte; je mehr fand er sich ermuntert, das Werk, wel-
ches Plato aufgegeben hatte, auf einer andern Seite,
und, wie er hoffte, mit besserm Erfolg, anzugreiffen.
Von tausend manchfaltigen Gedanken hin und her gezo-

gen,

Agathon.
chen, daß er nicht ſo war, wie er ihrer Einbildung zu
lieb haͤtte ſeyn ſollen, liehen ſie ihm noch einige Feh-
ler, die er nicht hatte, und verringerten den Werth der
ſchoͤnen Eigenſchaften, welche er entweder nicht verber-
gen konnte, oder nicht verbergen wollte; gewoͤhnliches
Verfahren der kleinen Geiſter, wodurch ſie ſich unter
einander in der troͤſtlichen Beredung zu ſtaͤrken ſuchen,
daß kein ſo groſſer Unterſcheid, oder vielleicht gar kei-
ner, zwiſchen ihnen und den Agathonen ſey ‒‒ und wer
wird ſo unbillig ſeyn, und ihnen das uͤbel nehmen?

Sobald ſich unſer Mann allein ſah, uͤberließ er ſich
den Betrachtungen, die in ſeiner gegenwaͤrtigen Stel-
lung die natuͤrlichſten waren. Sein erſter Gedanke, ſo-
bald er gehoͤrt hatte, daß Plato entfernt, und Dionys
wieder in der Gewalt ſeiner ehemaligen Guͤnſtlinge und
einer neuangekommenen Taͤnzerin ſey, war geweſen, ſich
nur wenige Tage bey ſeinem Freunde verborgen zu hal-
ten, und ſodann nach Jtalien uͤberzufahren, wo er ver-
ſchiedne Urſachen hatte zu hoffen, daß er in dem Hauſe
des beruͤhmten Archytas zu Tarent willkommen ſeyn
wuͤrde. Allein die Unterredung mit dem Ariſtippus
hatte ihn auf andre Gedanken gebracht. Je mehr er
dasjenige, was ihm dieſer Philoſoph von den Urſachen
der vorgegangenen Veraͤnderungen geſagt hatte, uͤber-
legte; je mehr fand er ſich ermuntert, das Werk, wel-
ches Plato aufgegeben hatte, auf einer andern Seite,
und, wie er hoffte, mit beſſerm Erfolg, anzugreiffen.
Von tauſend manchfaltigen Gedanken hin und her gezo-

gen,
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[160/0162] Agathon. chen, daß er nicht ſo war, wie er ihrer Einbildung zu lieb haͤtte ſeyn ſollen, liehen ſie ihm noch einige Feh- ler, die er nicht hatte, und verringerten den Werth der ſchoͤnen Eigenſchaften, welche er entweder nicht verber- gen konnte, oder nicht verbergen wollte; gewoͤhnliches Verfahren der kleinen Geiſter, wodurch ſie ſich unter einander in der troͤſtlichen Beredung zu ſtaͤrken ſuchen, daß kein ſo groſſer Unterſcheid, oder vielleicht gar kei- ner, zwiſchen ihnen und den Agathonen ſey ‒‒ und wer wird ſo unbillig ſeyn, und ihnen das uͤbel nehmen? Sobald ſich unſer Mann allein ſah, uͤberließ er ſich den Betrachtungen, die in ſeiner gegenwaͤrtigen Stel- lung die natuͤrlichſten waren. Sein erſter Gedanke, ſo- bald er gehoͤrt hatte, daß Plato entfernt, und Dionys wieder in der Gewalt ſeiner ehemaligen Guͤnſtlinge und einer neuangekommenen Taͤnzerin ſey, war geweſen, ſich nur wenige Tage bey ſeinem Freunde verborgen zu hal- ten, und ſodann nach Jtalien uͤberzufahren, wo er ver- ſchiedne Urſachen hatte zu hoffen, daß er in dem Hauſe des beruͤhmten Archytas zu Tarent willkommen ſeyn wuͤrde. Allein die Unterredung mit dem Ariſtippus hatte ihn auf andre Gedanken gebracht. Je mehr er dasjenige, was ihm dieſer Philoſoph von den Urſachen der vorgegangenen Veraͤnderungen geſagt hatte, uͤber- legte; je mehr fand er ſich ermuntert, das Werk, wel- ches Plato aufgegeben hatte, auf einer andern Seite, und, wie er hoffte, mit beſſerm Erfolg, anzugreiffen. Von tauſend manchfaltigen Gedanken hin und her gezo- gen,

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/162>, abgerufen am 24.04.2024.