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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, viertes Capitel.
Unschuld seines Freundes zu vertheidigen. Er wurde
täglich zur Tafel eingeladen; aber nur, um mit eig-
nen Ohren anzuhören, wie die Grundsäze seiner Phi-
losophie, die Tugend selbst, und alles was einem ge-
sunden Gemüth ehrwürdig ist, zum Gegenstand leicht-
sinniger Scherze gemacht wurden, welche sehr oft den
ächten Wiz nicht weniger beleidigten als die Tugend.
Und damit ihm alle Gelegenheit benommen würde, die
widrigen Eindrüke, welche den Syracusanern gegen den
Dion beygebracht worden waren, wieder auszulöschen,
wurde ihm unter dem Schein einer besondern Ehren-
bezeugung eine Wache gegeben, welche ihn wie einen
Staats-Gefangenen beobachtete und eingeschlossen hielt.
Der Philosoph hatte denjenigen Theil seiner Seele, wel-
chem er seinen Siz zwischen der Brust und dem Zwerch-
Fell angewiesen, noch nicht so gänzlich gebändiget, daß
ihn dieses Betragen des Tyrannen nicht hätte erbittern
sollen. Er fieng an wie ein freygebohrner Athenienser
zu sprechen, und verlangte seine Entlassung. Dionys
stellte sich über dieses Begehren bestürzt an, und schien
alles anzuwenden, um einen so wichtigen Freund bey
sich zu behalten; er bot ihm so gar die erste Stelle in
seinem Reich, und, wenn Plutarch nicht zuviel gesagt
hat, alle seine Schäze an, wofern er sich verbindlich
machen wollte, ihn niemals zu verlassen; aber die Be-
dingung, welche er hinzusezte, bewieß, wie wenig er
selbst erwartete, daß seine Erbietungen angenommen
werden würden. Denn er verlangte, daß er ihm seine
Freundschaft für den Dion aufopfern sollte; und Plato

verstuhnd
[Agath. II. Th.] K

Neuntes Buch, viertes Capitel.
Unſchuld ſeines Freundes zu vertheidigen. Er wurde
taͤglich zur Tafel eingeladen; aber nur, um mit eig-
nen Ohren anzuhoͤren, wie die Grundſaͤze ſeiner Phi-
loſophie, die Tugend ſelbſt, und alles was einem ge-
ſunden Gemuͤth ehrwuͤrdig iſt, zum Gegenſtand leicht-
ſinniger Scherze gemacht wurden, welche ſehr oft den
aͤchten Wiz nicht weniger beleidigten als die Tugend.
Und damit ihm alle Gelegenheit benommen wuͤrde, die
widrigen Eindruͤke, welche den Syracuſanern gegen den
Dion beygebracht worden waren, wieder auszuloͤſchen,
wurde ihm unter dem Schein einer beſondern Ehren-
bezeugung eine Wache gegeben, welche ihn wie einen
Staats-Gefangenen beobachtete und eingeſchloſſen hielt.
Der Philoſoph hatte denjenigen Theil ſeiner Seele, wel-
chem er ſeinen Siz zwiſchen der Bruſt und dem Zwerch-
Fell angewieſen, noch nicht ſo gaͤnzlich gebaͤndiget, daß
ihn dieſes Betragen des Tyrannen nicht haͤtte erbittern
ſollen. Er fieng an wie ein freygebohrner Athenienſer
zu ſprechen, und verlangte ſeine Entlaſſung. Dionys
ſtellte ſich uͤber dieſes Begehren beſtuͤrzt an, und ſchien
alles anzuwenden, um einen ſo wichtigen Freund bey
ſich zu behalten; er bot ihm ſo gar die erſte Stelle in
ſeinem Reich, und, wenn Plutarch nicht zuviel geſagt
hat, alle ſeine Schaͤze an, wofern er ſich verbindlich
machen wollte, ihn niemals zu verlaſſen; aber die Be-
dingung, welche er hinzuſezte, bewieß, wie wenig er
ſelbſt erwartete, daß ſeine Erbietungen angenommen
werden wuͤrden. Denn er verlangte, daß er ihm ſeine
Freundſchaft fuͤr den Dion aufopfern ſollte; und Plato

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[Agath. II. Th.] K
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[145/0147] Neuntes Buch, viertes Capitel. Unſchuld ſeines Freundes zu vertheidigen. Er wurde taͤglich zur Tafel eingeladen; aber nur, um mit eig- nen Ohren anzuhoͤren, wie die Grundſaͤze ſeiner Phi- loſophie, die Tugend ſelbſt, und alles was einem ge- ſunden Gemuͤth ehrwuͤrdig iſt, zum Gegenſtand leicht- ſinniger Scherze gemacht wurden, welche ſehr oft den aͤchten Wiz nicht weniger beleidigten als die Tugend. Und damit ihm alle Gelegenheit benommen wuͤrde, die widrigen Eindruͤke, welche den Syracuſanern gegen den Dion beygebracht worden waren, wieder auszuloͤſchen, wurde ihm unter dem Schein einer beſondern Ehren- bezeugung eine Wache gegeben, welche ihn wie einen Staats-Gefangenen beobachtete und eingeſchloſſen hielt. Der Philoſoph hatte denjenigen Theil ſeiner Seele, wel- chem er ſeinen Siz zwiſchen der Bruſt und dem Zwerch- Fell angewieſen, noch nicht ſo gaͤnzlich gebaͤndiget, daß ihn dieſes Betragen des Tyrannen nicht haͤtte erbittern ſollen. Er fieng an wie ein freygebohrner Athenienſer zu ſprechen, und verlangte ſeine Entlaſſung. Dionys ſtellte ſich uͤber dieſes Begehren beſtuͤrzt an, und ſchien alles anzuwenden, um einen ſo wichtigen Freund bey ſich zu behalten; er bot ihm ſo gar die erſte Stelle in ſeinem Reich, und, wenn Plutarch nicht zuviel geſagt hat, alle ſeine Schaͤze an, wofern er ſich verbindlich machen wollte, ihn niemals zu verlaſſen; aber die Be- dingung, welche er hinzuſezte, bewieß, wie wenig er ſelbſt erwartete, daß ſeine Erbietungen angenommen werden wuͤrden. Denn er verlangte, daß er ihm ſeine Freundſchaft fuͤr den Dion aufopfern ſollte; und Plato verſtuhnd [Agath. II. Th.] K

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/147>, abgerufen am 25.04.2024.