Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.Achtes Buch, erstes Capitel. Lauf gemacht, mit Erzählung des ihrigen zu erwiedern;aber wir zweifeln sehr, daß sie sich zu einer eben so gewissenhaften Vertraulichkeit verbunden gehalten habe. Und woher wissen wir auch, daß Agathon selbst, mit aller seiner Offenherzigkeit, keinen Umstand zurük gehal- ten habe, von dem er vielleicht, wie ein guter Mahler oder Dichter, vorausgesehen, daß er der schönen Würkung des Ganzen hinderlich seyn könnte. Wer ist uns Bürge dafür, daß die verführische Priesterin nicht mehr über ihn erhalten habe, als er eingestanden? Wenigstens hat einigen von unsern Lesern, (welche vielleicht vergessen ha- ben, daß sie keine Agathons sind) die tiefe Gleichgültig- keit etwas verdächtig geschienen, worinn ihn, bey einer gewissen Gelegenheit, Reizungen, die, ihrer Meynung nach, in seiner blossen Beschreibung schon verführen könnten, gelassen haben sollen. Jn der That; man mag so schüchtern oder so Platonisch seyn als man will; eine schöne Frau, welche sich vorgenommen hat, die Macht ihrer Reizungen an uns zu prüfen, selbst von dem Gott der Liebe begeistert, und was noch schlimmer ist, eine Priesterin -- in einer so belaurenden Stel- lung, mit so schwarzen Augen, mit einem so schönen Busen -- ist ganz unstreitig ein gefährlicher Anblik für einen jeden, der (wie Phryne sagte) keine Statue ist: Und die Poesie müßte die magischen Kräfte nicht haben, welche ihr von jeher zugeschrieben worden sind, wenn in einer solchen Situation das Lesen einer Scene, wie die Verführung Jupiters durch den Gürtel der Venus in A 5
Achtes Buch, erſtes Capitel. Lauf gemacht, mit Erzaͤhlung des ihrigen zu erwiedern;aber wir zweifeln ſehr, daß ſie ſich zu einer eben ſo gewiſſenhaften Vertraulichkeit verbunden gehalten habe. Und woher wiſſen wir auch, daß Agathon ſelbſt, mit aller ſeiner Offenherzigkeit, keinen Umſtand zuruͤk gehal- ten habe, von dem er vielleicht, wie ein guter Mahler oder Dichter, vorausgeſehen, daß er der ſchoͤnen Wuͤrkung des Ganzen hinderlich ſeyn koͤnnte. Wer iſt uns Buͤrge dafuͤr, daß die verfuͤhriſche Prieſterin nicht mehr uͤber ihn erhalten habe, als er eingeſtanden? Wenigſtens hat einigen von unſern Leſern, (welche vielleicht vergeſſen ha- ben, daß ſie keine Agathons ſind) die tiefe Gleichguͤltig- keit etwas verdaͤchtig geſchienen, worinn ihn, bey einer gewiſſen Gelegenheit, Reizungen, die, ihrer Meynung nach, in ſeiner bloſſen Beſchreibung ſchon verfuͤhren koͤnnten, gelaſſen haben ſollen. Jn der That; man mag ſo ſchuͤchtern oder ſo Platoniſch ſeyn als man will; eine ſchoͤne Frau, welche ſich vorgenommen hat, die Macht ihrer Reizungen an uns zu pruͤfen, ſelbſt von dem Gott der Liebe begeiſtert, und was noch ſchlimmer iſt, eine Prieſterin — in einer ſo belaurenden Stel- lung, mit ſo ſchwarzen Augen, mit einem ſo ſchoͤnen Buſen — iſt ganz unſtreitig ein gefaͤhrlicher Anblik fuͤr einen jeden, der (wie Phryne ſagte) keine Statue iſt: Und die Poeſie muͤßte die magiſchen Kraͤfte nicht haben, welche ihr von jeher zugeſchrieben worden ſind, wenn in einer ſolchen Situation das Leſen einer Scene, wie die Verfuͤhrung Jupiters durch den Guͤrtel der Venus in A 5
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Achtes Buch, erſtes Capitel.
Lauf gemacht, mit Erzaͤhlung des ihrigen zu erwiedern;
aber wir zweifeln ſehr, daß ſie ſich zu einer eben ſo
gewiſſenhaften Vertraulichkeit verbunden gehalten habe.
Und woher wiſſen wir auch, daß Agathon ſelbſt, mit
aller ſeiner Offenherzigkeit, keinen Umſtand zuruͤk gehal-
ten habe, von dem er vielleicht, wie ein guter Mahler
oder Dichter, vorausgeſehen, daß er der ſchoͤnen Wuͤrkung
des Ganzen hinderlich ſeyn koͤnnte. Wer iſt uns Buͤrge
dafuͤr, daß die verfuͤhriſche Prieſterin nicht mehr uͤber
ihn erhalten habe, als er eingeſtanden? Wenigſtens hat
einigen von unſern Leſern, (welche vielleicht vergeſſen ha-
ben, daß ſie keine Agathons ſind) die tiefe Gleichguͤltig-
keit etwas verdaͤchtig geſchienen, worinn ihn, bey einer
gewiſſen Gelegenheit, Reizungen, die, ihrer Meynung
nach, in ſeiner bloſſen Beſchreibung ſchon verfuͤhren
koͤnnten, gelaſſen haben ſollen. Jn der That; man
mag ſo ſchuͤchtern oder ſo Platoniſch ſeyn als man will;
eine ſchoͤne Frau, welche ſich vorgenommen hat, die
Macht ihrer Reizungen an uns zu pruͤfen, ſelbſt von
dem Gott der Liebe begeiſtert, und was noch ſchlimmer
iſt, eine Prieſterin — in einer ſo belaurenden Stel-
lung, mit ſo ſchwarzen Augen, mit einem ſo ſchoͤnen
Buſen — iſt ganz unſtreitig ein gefaͤhrlicher Anblik fuͤr
einen jeden, der (wie Phryne ſagte) keine Statue iſt:
Und die Poeſie muͤßte die magiſchen Kraͤfte nicht haben,
welche ihr von jeher zugeſchrieben worden ſind, wenn
in einer ſolchen Situation das Leſen einer Scene, wie
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