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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Agathon.
in der Jliade ist, den natürlichen Würkungen eines da-
mit so übereinstimmenden Gegenstands, nicht eine ver-
doppelte Stärke hätte geben sollen. Allein dem sey nun
wie ihm wolle, so ist gewiß, daß Danae, in der Er-
zählung ihrer Geschichte mehr die Geseze des Schönen
und Anständigen als die Pflichten einer genauen histori-
schen Treue zu ihrem Augenmerk genommen, und sich
kein Bedenken gemacht, bald einen Umstand zu ver-
schönern, bald einen andern gar wegzulassen, so oft es
die besondere Absicht auf ihren Zuhörer erfodern mochte.
Denn für diesen allein, nicht für die Welt, erzählte sie;
und sie konnte sich also durch die strengen Forderungen,
welche die Leztere (wiewol vergebens) an die Geschicht-
schreiber macht, nicht so sehr gebunden halten. Nicht,
als ob sie ihm irgend eine hauptsächliche Begebenheit ih-
res Lebens gänzlich verschwiegen, oder ihn statt der
würklichen durch erdichtete hintergangen hätte. Sie
sagte ihm alles. Allein es giebt eine gewisse Kunst,
dasjenige was einen widrigen Eindruk machen könnte,
aus den Augen zu entfernen; es kömmt soviel auf die
Wendung an; ein einziger kleiner Umstand giebt einer
Begebenheit eine so verschiedene Gestalt von demjenigen,
was sie ohne diesen kleinen Umstand gewesen wäre; daß
man ohne eine merkliche Veränderung dessen was den
Stoff der Erzählung ausmacht, tausend sehr bedeu-
tende Treulosigkeiten an der historischen Wahrheit bege-
hen kan. Eine Betrachtung, die uns (im Vorbeyge-
hen zu sagen) die Geschichtschreiber ihres eignen wer-

then

Agathon.
in der Jliade iſt, den natuͤrlichen Wuͤrkungen eines da-
mit ſo uͤbereinſtimmenden Gegenſtands, nicht eine ver-
doppelte Staͤrke haͤtte geben ſollen. Allein dem ſey nun
wie ihm wolle, ſo iſt gewiß, daß Danae, in der Er-
zaͤhlung ihrer Geſchichte mehr die Geſeze des Schoͤnen
und Anſtaͤndigen als die Pflichten einer genauen hiſtori-
ſchen Treue zu ihrem Augenmerk genommen, und ſich
kein Bedenken gemacht, bald einen Umſtand zu ver-
ſchoͤnern, bald einen andern gar wegzulaſſen, ſo oft es
die beſondere Abſicht auf ihren Zuhoͤrer erfodern mochte.
Denn fuͤr dieſen allein, nicht fuͤr die Welt, erzaͤhlte ſie;
und ſie konnte ſich alſo durch die ſtrengen Forderungen,
welche die Leztere (wiewol vergebens) an die Geſchicht-
ſchreiber macht, nicht ſo ſehr gebunden halten. Nicht,
als ob ſie ihm irgend eine hauptſaͤchliche Begebenheit ih-
res Lebens gaͤnzlich verſchwiegen, oder ihn ſtatt der
wuͤrklichen durch erdichtete hintergangen haͤtte. Sie
ſagte ihm alles. Allein es giebt eine gewiſſe Kunſt,
dasjenige was einen widrigen Eindruk machen koͤnnte,
aus den Augen zu entfernen; es koͤmmt ſoviel auf die
Wendung an; ein einziger kleiner Umſtand giebt einer
Begebenheit eine ſo verſchiedene Geſtalt von demjenigen,
was ſie ohne dieſen kleinen Umſtand geweſen waͤre; daß
man ohne eine merkliche Veraͤnderung deſſen was den
Stoff der Erzaͤhlung ausmacht, tauſend ſehr bedeu-
tende Treuloſigkeiten an der hiſtoriſchen Wahrheit bege-
hen kan. Eine Betrachtung, die uns (im Vorbeyge-
hen zu ſagen) die Geſchichtſchreiber ihres eignen wer-

then
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[10/0012] Agathon. in der Jliade iſt, den natuͤrlichen Wuͤrkungen eines da- mit ſo uͤbereinſtimmenden Gegenſtands, nicht eine ver- doppelte Staͤrke haͤtte geben ſollen. Allein dem ſey nun wie ihm wolle, ſo iſt gewiß, daß Danae, in der Er- zaͤhlung ihrer Geſchichte mehr die Geſeze des Schoͤnen und Anſtaͤndigen als die Pflichten einer genauen hiſtori- ſchen Treue zu ihrem Augenmerk genommen, und ſich kein Bedenken gemacht, bald einen Umſtand zu ver- ſchoͤnern, bald einen andern gar wegzulaſſen, ſo oft es die beſondere Abſicht auf ihren Zuhoͤrer erfodern mochte. Denn fuͤr dieſen allein, nicht fuͤr die Welt, erzaͤhlte ſie; und ſie konnte ſich alſo durch die ſtrengen Forderungen, welche die Leztere (wiewol vergebens) an die Geſchicht- ſchreiber macht, nicht ſo ſehr gebunden halten. Nicht, als ob ſie ihm irgend eine hauptſaͤchliche Begebenheit ih- res Lebens gaͤnzlich verſchwiegen, oder ihn ſtatt der wuͤrklichen durch erdichtete hintergangen haͤtte. Sie ſagte ihm alles. Allein es giebt eine gewiſſe Kunſt, dasjenige was einen widrigen Eindruk machen koͤnnte, aus den Augen zu entfernen; es koͤmmt ſoviel auf die Wendung an; ein einziger kleiner Umſtand giebt einer Begebenheit eine ſo verſchiedene Geſtalt von demjenigen, was ſie ohne dieſen kleinen Umſtand geweſen waͤre; daß man ohne eine merkliche Veraͤnderung deſſen was den Stoff der Erzaͤhlung ausmacht, tauſend ſehr bedeu- tende Treuloſigkeiten an der hiſtoriſchen Wahrheit bege- hen kan. Eine Betrachtung, die uns (im Vorbeyge- hen zu ſagen) die Geſchichtſchreiber ihres eignen wer- then

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/12>, abgerufen am 28.03.2024.