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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Zweytes Buch, achtes Capitel.
Gratien selbst könnten, wenn sie gekleidet erscheinen
wollten, keinen Anzug erfinden, der auf eine wohlanstän-
digere Art das Mittel, zwischen der eigentlichen Klei-
dung und ihrer gewöhnlichen Art sich sehen zu lassen,
hielte. Die Wahrheit zu sagen, das rosenfarbe Ge-
wand, welches sie umfloß, war eher demjenigen ähn-
lich, was Petron einen gewebten Wind oder einen lei-
nenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen
etwas entziehen soll; und die kleinste Bewegung entdekte
Reizungen, die desto gefährlicher waren, da sie sich
gleich wieder in verrätherische Schatten verbargen, und
der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzu-
stellen schienen. Dem ungeachtet würde unser Held sich
vielleicht ganz wohl aus der Sache gezogen haben, wenn
er nicht beym ersten Anblik die Absichten des Hippias
und der schönen Cyana (so hieß das junge Frauenzim-
mer) errathen hätte. Diese Entdekung sezte ihn in ei-
ne Art von Verlegenheit, die desto merklicher wurde,
je grössere Gewalt er sich anthat, sie zu verbergen; er er-
röthete zu seinem grösten Verdruß biß an die Ohren, er
machte allerley gezwungne Gebehrden, und sah alle Ge-
mählde in dem Zimmer nach einander an, um seine
Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle seine Mü-
he war umsonst, und die Geschäftigkeit der schalkhaften
Cyane fand immer neuen Vorwand seinen zerstreuten
Blik auf sich zu ziehen. Doch der Triumph, dessen sie
in diesen Augenbliken genoß, währte nicht lange. So
empfindlich die Augen Agathons waren, so waren sie
es doch nicht mehr als sein moralischer Sinn; und ein

Gegen-

Zweytes Buch, achtes Capitel.
Gratien ſelbſt koͤnnten, wenn ſie gekleidet erſcheinen
wollten, keinen Anzug erfinden, der auf eine wohlanſtaͤn-
digere Art das Mittel, zwiſchen der eigentlichen Klei-
dung und ihrer gewoͤhnlichen Art ſich ſehen zu laſſen,
hielte. Die Wahrheit zu ſagen, das roſenfarbe Ge-
wand, welches ſie umfloß, war eher demjenigen aͤhn-
lich, was Petron einen gewebten Wind oder einen lei-
nenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen
etwas entziehen ſoll; und die kleinſte Bewegung entdekte
Reizungen, die deſto gefaͤhrlicher waren, da ſie ſich
gleich wieder in verraͤtheriſche Schatten verbargen, und
der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzu-
ſtellen ſchienen. Dem ungeachtet wuͤrde unſer Held ſich
vielleicht ganz wohl aus der Sache gezogen haben, wenn
er nicht beym erſten Anblik die Abſichten des Hippias
und der ſchoͤnen Cyana (ſo hieß das junge Frauenzim-
mer) errathen haͤtte. Dieſe Entdekung ſezte ihn in ei-
ne Art von Verlegenheit, die deſto merklicher wurde,
je groͤſſere Gewalt er ſich anthat, ſie zu verbergen; er er-
roͤthete zu ſeinem groͤſten Verdruß biß an die Ohren, er
machte allerley gezwungne Gebehrden, und ſah alle Ge-
maͤhlde in dem Zimmer nach einander an, um ſeine
Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle ſeine Muͤ-
he war umſonſt, und die Geſchaͤftigkeit der ſchalkhaften
Cyane fand immer neuen Vorwand ſeinen zerſtreuten
Blik auf ſich zu ziehen. Doch der Triumph, deſſen ſie
in dieſen Augenbliken genoß, waͤhrte nicht lange. So
empfindlich die Augen Agathons waren, ſo waren ſie
es doch nicht mehr als ſein moraliſcher Sinn; und ein

Gegen-
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[75/0097] Zweytes Buch, achtes Capitel. Gratien ſelbſt koͤnnten, wenn ſie gekleidet erſcheinen wollten, keinen Anzug erfinden, der auf eine wohlanſtaͤn- digere Art das Mittel, zwiſchen der eigentlichen Klei- dung und ihrer gewoͤhnlichen Art ſich ſehen zu laſſen, hielte. Die Wahrheit zu ſagen, das roſenfarbe Ge- wand, welches ſie umfloß, war eher demjenigen aͤhn- lich, was Petron einen gewebten Wind oder einen lei- nenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen etwas entziehen ſoll; und die kleinſte Bewegung entdekte Reizungen, die deſto gefaͤhrlicher waren, da ſie ſich gleich wieder in verraͤtheriſche Schatten verbargen, und der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzu- ſtellen ſchienen. Dem ungeachtet wuͤrde unſer Held ſich vielleicht ganz wohl aus der Sache gezogen haben, wenn er nicht beym erſten Anblik die Abſichten des Hippias und der ſchoͤnen Cyana (ſo hieß das junge Frauenzim- mer) errathen haͤtte. Dieſe Entdekung ſezte ihn in ei- ne Art von Verlegenheit, die deſto merklicher wurde, je groͤſſere Gewalt er ſich anthat, ſie zu verbergen; er er- roͤthete zu ſeinem groͤſten Verdruß biß an die Ohren, er machte allerley gezwungne Gebehrden, und ſah alle Ge- maͤhlde in dem Zimmer nach einander an, um ſeine Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle ſeine Muͤ- he war umſonſt, und die Geſchaͤftigkeit der ſchalkhaften Cyane fand immer neuen Vorwand ſeinen zerſtreuten Blik auf ſich zu ziehen. Doch der Triumph, deſſen ſie in dieſen Augenbliken genoß, waͤhrte nicht lange. So empfindlich die Augen Agathons waren, ſo waren ſie es doch nicht mehr als ſein moraliſcher Sinn; und ein Gegen-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/97>, abgerufen am 26.04.2024.