Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
Oder hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich über-
lassen, warum sind wir keinen Augenblik unsers Zu-
standes Meister? Warum vernichtet bald Nothwendig-
keit, bald Zufall, die weisesten Entwürfe? --

Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; sein in
Zweifeln verwikelter Geist arbeitete sich loszuwinden,
biß ein neuer Blik auf die majestätische Natur die ihn
umgab, eine andre Reyhe von Vorstellungen in ihm
entwikelte. -- Was sind, fuhr er mit sich selbst fort,
meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennützi-
gen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glüklicher
als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her.
Hat sich die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder
ist sie minder der Schauplaz einer grenzenlosen Voll-
kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Psyche
getrennet ist? Schäme dich, Kleinmüthiger, deiner
trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen!
Wie kanst du Verlust nennen, dessen Besiz kein Gut
war? Jst es ein Uebel, deines Ansehens, deines Ver-
mögens, deines Vaterlandes beraubt zu seyn? Alles
dessen beraubt warst du in Delphi glüklich, und vermis-
kest es nicht. Und warum nennest du Dinge dein, die
nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall giebt und
nimmt, ohne daß es in deiner Willkühr steht sie zu er-
langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und
glüklich sloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die
Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und
ihre Abwechselungen kannte; eh ich genöthiget war,

mit

Agathon.
Oder hat er uns die Sorge fuͤr uns ſelbſt gaͤnzlich uͤber-
laſſen, warum ſind wir keinen Augenblik unſers Zu-
ſtandes Meiſter? Warum vernichtet bald Nothwendig-
keit, bald Zufall, die weiſeſten Entwuͤrfe? ‒‒

Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; ſein in
Zweifeln verwikelter Geiſt arbeitete ſich loszuwinden,
biß ein neuer Blik auf die majeſtaͤtiſche Natur die ihn
umgab, eine andre Reyhe von Vorſtellungen in ihm
entwikelte. ‒‒ Was ſind, fuhr er mit ſich ſelbſt fort,
meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennuͤtzi-
gen Leidenſchaft? Wer war dieſen Morgen gluͤklicher
als ich? Alles war Wolluſt und Wonne um mich her.
Hat ſich die Natur binnen dieſer Zeit veraͤndert, oder
iſt ſie minder der Schauplaz einer grenzenloſen Voll-
kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Pſyche
getrennet iſt? Schaͤme dich, Kleinmuͤthiger, deiner
truͤbſinnigen Zweifel, und deiner unmaͤnnlichen Klagen!
Wie kanſt du Verluſt nennen, deſſen Beſiz kein Gut
war? Jſt es ein Uebel, deines Anſehens, deines Ver-
moͤgens, deines Vaterlandes beraubt zu ſeyn? Alles
deſſen beraubt warſt du in Delphi gluͤklich, und vermiſ-
keſt es nicht. Und warum nenneſt du Dinge dein, die
nicht zu dir ſelbſt gehoͤren, die der Zufall giebt und
nimmt, ohne daß es in deiner Willkuͤhr ſteht ſie zu er-
langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und
gluͤklich ſloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die
Welt, ihre Geſchaͤfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und
ihre Abwechſelungen kannte; eh ich genoͤthiget war,

mit
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0054" n="32"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
Oder hat er uns die Sorge fu&#x0364;r uns &#x017F;elb&#x017F;t ga&#x0364;nzlich u&#x0364;ber-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, warum &#x017F;ind wir keinen Augenblik un&#x017F;ers Zu-<lb/>
&#x017F;tandes Mei&#x017F;ter? Warum vernichtet bald Nothwendig-<lb/>
keit, bald Zufall, die wei&#x017F;e&#x017F;ten Entwu&#x0364;rfe? &#x2012;&#x2012;</p><lb/>
            <p>Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; &#x017F;ein in<lb/>
Zweifeln verwikelter Gei&#x017F;t arbeitete &#x017F;ich loszuwinden,<lb/>
biß ein neuer Blik auf die maje&#x017F;ta&#x0364;ti&#x017F;che Natur die ihn<lb/>
umgab, eine andre Reyhe von Vor&#x017F;tellungen in ihm<lb/>
entwikelte. &#x2012;&#x2012; Was &#x017F;ind, fuhr er mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t fort,<lb/>
meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennu&#x0364;tzi-<lb/>
gen Leiden&#x017F;chaft? Wer war die&#x017F;en Morgen glu&#x0364;klicher<lb/>
als ich? Alles war Wollu&#x017F;t und Wonne um mich her.<lb/>
Hat &#x017F;ich die Natur binnen die&#x017F;er Zeit vera&#x0364;ndert, oder<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie minder der Schauplaz einer grenzenlo&#x017F;en Voll-<lb/>
kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von P&#x017F;yche<lb/>
getrennet i&#x017F;t? Scha&#x0364;me dich, Kleinmu&#x0364;thiger, deiner<lb/>
tru&#x0364;b&#x017F;innigen Zweifel, und deiner unma&#x0364;nnlichen Klagen!<lb/>
Wie kan&#x017F;t du Verlu&#x017F;t nennen, de&#x017F;&#x017F;en Be&#x017F;iz kein Gut<lb/>
war? J&#x017F;t es ein Uebel, deines An&#x017F;ehens, deines Ver-<lb/>
mo&#x0364;gens, deines Vaterlandes beraubt zu &#x017F;eyn? Alles<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en beraubt war&#x017F;t du in Delphi glu&#x0364;klich, und vermi&#x017F;-<lb/>
ke&#x017F;t es nicht. Und warum nenne&#x017F;t du Dinge dein, die<lb/>
nicht zu dir &#x017F;elb&#x017F;t geho&#x0364;ren, die der Zufall giebt und<lb/>
nimmt, ohne daß es in deiner Willku&#x0364;hr &#x017F;teht &#x017F;ie zu er-<lb/>
langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und<lb/>
glu&#x0364;klich &#x017F;loß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die<lb/>
Welt, ihre Ge&#x017F;cha&#x0364;fte, ihre Sorgen, ihre Freuden und<lb/>
ihre Abwech&#x017F;elungen kannte; eh ich geno&#x0364;thiget war,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0054] Agathon. Oder hat er uns die Sorge fuͤr uns ſelbſt gaͤnzlich uͤber- laſſen, warum ſind wir keinen Augenblik unſers Zu- ſtandes Meiſter? Warum vernichtet bald Nothwendig- keit, bald Zufall, die weiſeſten Entwuͤrfe? ‒‒ Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; ſein in Zweifeln verwikelter Geiſt arbeitete ſich loszuwinden, biß ein neuer Blik auf die majeſtaͤtiſche Natur die ihn umgab, eine andre Reyhe von Vorſtellungen in ihm entwikelte. ‒‒ Was ſind, fuhr er mit ſich ſelbſt fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennuͤtzi- gen Leidenſchaft? Wer war dieſen Morgen gluͤklicher als ich? Alles war Wolluſt und Wonne um mich her. Hat ſich die Natur binnen dieſer Zeit veraͤndert, oder iſt ſie minder der Schauplaz einer grenzenloſen Voll- kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Pſyche getrennet iſt? Schaͤme dich, Kleinmuͤthiger, deiner truͤbſinnigen Zweifel, und deiner unmaͤnnlichen Klagen! Wie kanſt du Verluſt nennen, deſſen Beſiz kein Gut war? Jſt es ein Uebel, deines Anſehens, deines Ver- moͤgens, deines Vaterlandes beraubt zu ſeyn? Alles deſſen beraubt warſt du in Delphi gluͤklich, und vermiſ- keſt es nicht. Und warum nenneſt du Dinge dein, die nicht zu dir ſelbſt gehoͤren, die der Zufall giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkuͤhr ſteht ſie zu er- langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und gluͤklich ſloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die Welt, ihre Geſchaͤfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechſelungen kannte; eh ich genoͤthiget war, mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/54
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/54>, abgerufen am 19.04.2024.