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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Erstes Buch, zehntes Capitel.
glauben, daß sie es sey, die ich in meinen Armen um-
schlossen halte, so verschwindet sie wieder, und ich fin-
de mich auf diesem Schiffe, um zu Smyrna als ein
Sclave verkauft zu werden -- Wie ähnlich ist alles die-
ses einem Traum, wo die schwärmende Phantasie, oh-
ne Ordnung, ohne Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder
Ort in Betracht zu ziehen, die betäubte Seele von einem
Abentheur zu dem andern, von der Crone zum Bett-
lers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom
Tartarus ins Elysium fortreißt? -- Und ist denn das
Leben ein Traum, ein blosser Traum, so eitel, so un-
wesentlich, so unbedeutend als ein Traum? Ein un-
beständiges Spiel des blinden Zufalls, oder unsichtba-
rer Geister, die eine grausame Belustigung darinn fin-
den, uns zum Scherz bald glüklich bald unglüklich zu
machen? Oder, ist es eben diese allgemeine Seele der
Welt, deren Daseyn die geheimnißvolle Majestät der
Natur ankündiget; ist es dieser allesbelebende Geist,
der die menschlichen Sachen anordnet; warum herr-
schet in der moralischen Welt nicht eben diese unverän-
derliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch
die Elemente die Jahres- und Tages-Zeiten, die Ge-
stirne und die Kreise des Himmels in ihrem gleichför-
migen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Un-
schuldige? Warum sieget der Betrüger? Warum ver-
folgt ein unerbittliches Schiksal die Tugendhaften?
Sind unsre Seelen den Unsterblichen verwandt, sind
sie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel
sein Geschlecht, und tritt auf die Seite seiner Feinde?

Oder

Erſtes Buch, zehntes Capitel.
glauben, daß ſie es ſey, die ich in meinen Armen um-
ſchloſſen halte, ſo verſchwindet ſie wieder, und ich fin-
de mich auf dieſem Schiffe, um zu Smyrna als ein
Sclave verkauft zu werden ‒‒ Wie aͤhnlich iſt alles die-
ſes einem Traum, wo die ſchwaͤrmende Phantaſie, oh-
ne Ordnung, ohne Wahrſcheinlichkeit, ohne Zeit oder
Ort in Betracht zu ziehen, die betaͤubte Seele von einem
Abentheur zu dem andern, von der Crone zum Bett-
lers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom
Tartarus ins Elyſium fortreißt? ‒‒ Und iſt denn das
Leben ein Traum, ein bloſſer Traum, ſo eitel, ſo un-
weſentlich, ſo unbedeutend als ein Traum? Ein un-
beſtaͤndiges Spiel des blinden Zufalls, oder unſichtba-
rer Geiſter, die eine grauſame Beluſtigung darinn fin-
den, uns zum Scherz bald gluͤklich bald ungluͤklich zu
machen? Oder, iſt es eben dieſe allgemeine Seele der
Welt, deren Daſeyn die geheimnißvolle Majeſtaͤt der
Natur ankuͤndiget; iſt es dieſer allesbelebende Geiſt,
der die menſchlichen Sachen anordnet; warum herr-
ſchet in der moraliſchen Welt nicht eben dieſe unveraͤn-
derliche Ordnung und Zuſammenſtimmung, wodurch
die Elemente die Jahres- und Tages-Zeiten, die Ge-
ſtirne und die Kreiſe des Himmels in ihrem gleichfoͤr-
migen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Un-
ſchuldige? Warum ſieget der Betruͤger? Warum ver-
folgt ein unerbittliches Schikſal die Tugendhaften?
Sind unſre Seelen den Unſterblichen verwandt, ſind
ſie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel
ſein Geſchlecht, und tritt auf die Seite ſeiner Feinde?

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[31/0053] Erſtes Buch, zehntes Capitel. glauben, daß ſie es ſey, die ich in meinen Armen um- ſchloſſen halte, ſo verſchwindet ſie wieder, und ich fin- de mich auf dieſem Schiffe, um zu Smyrna als ein Sclave verkauft zu werden ‒‒ Wie aͤhnlich iſt alles die- ſes einem Traum, wo die ſchwaͤrmende Phantaſie, oh- ne Ordnung, ohne Wahrſcheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betaͤubte Seele von einem Abentheur zu dem andern, von der Crone zum Bett- lers-Mantel, von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elyſium fortreißt? ‒‒ Und iſt denn das Leben ein Traum, ein bloſſer Traum, ſo eitel, ſo un- weſentlich, ſo unbedeutend als ein Traum? Ein un- beſtaͤndiges Spiel des blinden Zufalls, oder unſichtba- rer Geiſter, die eine grauſame Beluſtigung darinn fin- den, uns zum Scherz bald gluͤklich bald ungluͤklich zu machen? Oder, iſt es eben dieſe allgemeine Seele der Welt, deren Daſeyn die geheimnißvolle Majeſtaͤt der Natur ankuͤndiget; iſt es dieſer allesbelebende Geiſt, der die menſchlichen Sachen anordnet; warum herr- ſchet in der moraliſchen Welt nicht eben dieſe unveraͤn- derliche Ordnung und Zuſammenſtimmung, wodurch die Elemente die Jahres- und Tages-Zeiten, die Ge- ſtirne und die Kreiſe des Himmels in ihrem gleichfoͤr- migen Lauf erhalten werden? Warum leidet der Un- ſchuldige? Warum ſieget der Betruͤger? Warum ver- folgt ein unerbittliches Schikſal die Tugendhaften? Sind unſre Seelen den Unſterblichen verwandt, ſind ſie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel ſein Geſchlecht, und tritt auf die Seite ſeiner Feinde? Oder

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/53>, abgerufen am 21.11.2024.