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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, neuntes Capitel.
sagen. Sie mochten, von einer Seite betrachtet, rich-
tig genug seyn; aber wir besorgen sehr, daß sie sich in
dem Gebrauch der Mittel, wodurch sie ihren Zwek zu
erhalten hoffte, von der Liebe betrogen finden werde.
Jn der That liebte sie zu aufrichtig und zu heftig, um
gute Schlüsse zu machen; und ihr Herz führte sie nach
und nach, ohne daß sie es gewahr wurde, weit über
die Grenzen der Mässigung weg, bey welcher sie sich
anfangs so wol befunden hatte. Vielleicht mochte auch
eine geheime Eifersucht über die gute Psyche (so wenig
sie gleich, aller Wahrscheinlichkeit nach, zu befürchten
hatte, daß sie jemals persönlich auftretten, und das
Herz ihres Liebhabers von ihr zurükfodern werde) sich
mit ins Spiel gemischt, und sie begierig gemacht ha-
ben, so gar die Erinnerung an die Freuden seiner er-
sten Liebe, welche ihr vielleicht noch allzulebhaft zu
seyn schien, aus seinem Gedächtniß auszulöschen. So
viel ist gewiß, daß sie (vor lauter Begierde, unsern
Helden mit Glükseligkeiten zu überschütten,) ihm eine
grenzenlose Liebe zu zeigen, und ihn einen solchen Grad
von Wonne, über welchem dem Herzen nichts zu wün-
schen, und der Phantasie nichts zu denken übrig bliebe,
erfahren zu machen, -- einen Weg einschlug, auf
welchen sie ihres Zweks fast nothwendig verfehlen mußte.
Der vortrefliche Brief des liebenswürdigsten Moralisten
der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Brie-
fen der Ninon Lenclos an den Marquis von Sevigne,
überhebt uns der Mühe, dem unerfahrnen Theil unse-
rer schönen Leserinnen zu erklären, wie es zugehe, daß

die
[Agath. I. Th.] B b

Siebentes Buch, neuntes Capitel.
ſagen. Sie mochten, von einer Seite betrachtet, rich-
tig genug ſeyn; aber wir beſorgen ſehr, daß ſie ſich in
dem Gebrauch der Mittel, wodurch ſie ihren Zwek zu
erhalten hoffte, von der Liebe betrogen finden werde.
Jn der That liebte ſie zu aufrichtig und zu heftig, um
gute Schluͤſſe zu machen; und ihr Herz fuͤhrte ſie nach
und nach, ohne daß ſie es gewahr wurde, weit uͤber
die Grenzen der Maͤſſigung weg, bey welcher ſie ſich
anfangs ſo wol befunden hatte. Vielleicht mochte auch
eine geheime Eiferſucht uͤber die gute Pſyche (ſo wenig
ſie gleich, aller Wahrſcheinlichkeit nach, zu befuͤrchten
hatte, daß ſie jemals perſoͤnlich auftretten, und das
Herz ihres Liebhabers von ihr zuruͤkfodern werde) ſich
mit ins Spiel gemiſcht, und ſie begierig gemacht ha-
ben, ſo gar die Erinnerung an die Freuden ſeiner er-
ſten Liebe, welche ihr vielleicht noch allzulebhaft zu
ſeyn ſchien, aus ſeinem Gedaͤchtniß auszuloͤſchen. So
viel iſt gewiß, daß ſie (vor lauter Begierde, unſern
Helden mit Gluͤkſeligkeiten zu uͤberſchuͤtten,) ihm eine
grenzenloſe Liebe zu zeigen, und ihn einen ſolchen Grad
von Wonne, uͤber welchem dem Herzen nichts zu wuͤn-
ſchen, und der Phantaſie nichts zu denken uͤbrig bliebe,
erfahren zu machen, — einen Weg einſchlug, auf
welchen ſie ihres Zweks faſt nothwendig verfehlen mußte.
Der vortrefliche Brief des liebenswuͤrdigſten Moraliſten
der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Brie-
fen der Ninon Lenclos an den Marquis von Sevigne,
uͤberhebt uns der Muͤhe, dem unerfahrnen Theil unſe-
rer ſchoͤnen Leſerinnen zu erklaͤren, wie es zugehe, daß

die
[Agath. I. Th.] B b
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[385/0407] Siebentes Buch, neuntes Capitel. ſagen. Sie mochten, von einer Seite betrachtet, rich- tig genug ſeyn; aber wir beſorgen ſehr, daß ſie ſich in dem Gebrauch der Mittel, wodurch ſie ihren Zwek zu erhalten hoffte, von der Liebe betrogen finden werde. Jn der That liebte ſie zu aufrichtig und zu heftig, um gute Schluͤſſe zu machen; und ihr Herz fuͤhrte ſie nach und nach, ohne daß ſie es gewahr wurde, weit uͤber die Grenzen der Maͤſſigung weg, bey welcher ſie ſich anfangs ſo wol befunden hatte. Vielleicht mochte auch eine geheime Eiferſucht uͤber die gute Pſyche (ſo wenig ſie gleich, aller Wahrſcheinlichkeit nach, zu befuͤrchten hatte, daß ſie jemals perſoͤnlich auftretten, und das Herz ihres Liebhabers von ihr zuruͤkfodern werde) ſich mit ins Spiel gemiſcht, und ſie begierig gemacht ha- ben, ſo gar die Erinnerung an die Freuden ſeiner er- ſten Liebe, welche ihr vielleicht noch allzulebhaft zu ſeyn ſchien, aus ſeinem Gedaͤchtniß auszuloͤſchen. So viel iſt gewiß, daß ſie (vor lauter Begierde, unſern Helden mit Gluͤkſeligkeiten zu uͤberſchuͤtten,) ihm eine grenzenloſe Liebe zu zeigen, und ihn einen ſolchen Grad von Wonne, uͤber welchem dem Herzen nichts zu wuͤn- ſchen, und der Phantaſie nichts zu denken uͤbrig bliebe, erfahren zu machen, — einen Weg einſchlug, auf welchen ſie ihres Zweks faſt nothwendig verfehlen mußte. Der vortrefliche Brief des liebenswuͤrdigſten Moraliſten der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Brie- fen der Ninon Lenclos an den Marquis von Sevigne, uͤberhebt uns der Muͤhe, dem unerfahrnen Theil unſe- rer ſchoͤnen Leſerinnen zu erklaͤren, wie es zugehe, daß die [Agath. I. Th.] B b

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/407>, abgerufen am 25.04.2024.