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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
eine besondere Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch
in der Kunst die Dichter recht zu lesen, habe unter-
richten lassen, und sie in der Folge zu ihrer Leserin ge-
macht habe. Diese Umstände waren für meine Liebe
zu der jungen Psyche nicht sehr schmeichelhaft; allein
das Vergnügen der gegenwärtigen Augenblike ließ mich
gar nicht an das Künftige denken; unbekümmert, wo-
hin die Empfindungen, von denen ich eingenommen
war, in ihren Folgen endlich führen könnten, überließ
ich mich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen
Unschuld; meine kleine Psyche zu sehen, zu lieben, es
ihr zu sagen, und aus ihrem schönen Munde zu hören,
in ihren seelenvollen Augen zu sehen, daß ich wieder
geliebt werde. -- Das waren izt alle Glükseligkei-
ten, die ich wünschte, und über welche hinaus ich keine
andere kannte. Jch hatte ihr etwas von den Eindrüken
gesagt, die ihr erster Anblik auf mein Herz gemacht
hatte; und sie hatte diese Eröffnungen mit dem Ge-
ständniß der vorzüglichen Meynung, welche ihr das all-
gemeine Urtheil zu Delphi von mir gegeben hätte, er-
wiedert; aber meine zärtliche und ehrfurchtsvolle Schüch-
ternheit erlaubte mir nicht, ihr alles zu sagen, was
mein Herz für sie empfand. Meine Ausdrüke waren
lebhaft und feuerig; aber sie hatten mit der gewöhnli-
chen Sprache der Liebe so wenig ähnliches, daß ich
weniger zu sagen glaubte, indem ich in der That unend-
lich mal mehr sagte, als ein gewöhnlicher Liebhaber,
der mehr von seinen Begierden beunruhigt, als von
dem Werthe seiner Geliebten gerührt ist. Allein da

wir

Agathon.
eine beſondere Neigung zum Leſen an ihr bemerkt, auch
in der Kunſt die Dichter recht zu leſen, habe unter-
richten laſſen, und ſie in der Folge zu ihrer Leſerin ge-
macht habe. Dieſe Umſtaͤnde waren fuͤr meine Liebe
zu der jungen Pſyche nicht ſehr ſchmeichelhaft; allein
das Vergnuͤgen der gegenwaͤrtigen Augenblike ließ mich
gar nicht an das Kuͤnftige denken; unbekuͤmmert, wo-
hin die Empfindungen, von denen ich eingenommen
war, in ihren Folgen endlich fuͤhren koͤnnten, uͤberließ
ich mich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen
Unſchuld; meine kleine Pſyche zu ſehen, zu lieben, es
ihr zu ſagen, und aus ihrem ſchoͤnen Munde zu hoͤren,
in ihren ſeelenvollen Augen zu ſehen, daß ich wieder
geliebt werde. — Das waren izt alle Gluͤkſeligkei-
ten, die ich wuͤnſchte, und uͤber welche hinaus ich keine
andere kannte. Jch hatte ihr etwas von den Eindruͤken
geſagt, die ihr erſter Anblik auf mein Herz gemacht
hatte; und ſie hatte dieſe Eroͤffnungen mit dem Ge-
ſtaͤndniß der vorzuͤglichen Meynung, welche ihr das all-
gemeine Urtheil zu Delphi von mir gegeben haͤtte, er-
wiedert; aber meine zaͤrtliche und ehrfurchtsvolle Schuͤch-
ternheit erlaubte mir nicht, ihr alles zu ſagen, was
mein Herz fuͤr ſie empfand. Meine Ausdruͤke waren
lebhaft und feuerig; aber ſie hatten mit der gewoͤhnli-
chen Sprache der Liebe ſo wenig aͤhnliches, daß ich
weniger zu ſagen glaubte, indem ich in der That unend-
lich mal mehr ſagte, als ein gewoͤhnlicher Liebhaber,
der mehr von ſeinen Begierden beunruhigt, als von
dem Werthe ſeiner Geliebten geruͤhrt iſt. Allein da

wir
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[300/0322] Agathon. eine beſondere Neigung zum Leſen an ihr bemerkt, auch in der Kunſt die Dichter recht zu leſen, habe unter- richten laſſen, und ſie in der Folge zu ihrer Leſerin ge- macht habe. Dieſe Umſtaͤnde waren fuͤr meine Liebe zu der jungen Pſyche nicht ſehr ſchmeichelhaft; allein das Vergnuͤgen der gegenwaͤrtigen Augenblike ließ mich gar nicht an das Kuͤnftige denken; unbekuͤmmert, wo- hin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in ihren Folgen endlich fuͤhren koͤnnten, uͤberließ ich mich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen Unſchuld; meine kleine Pſyche zu ſehen, zu lieben, es ihr zu ſagen, und aus ihrem ſchoͤnen Munde zu hoͤren, in ihren ſeelenvollen Augen zu ſehen, daß ich wieder geliebt werde. — Das waren izt alle Gluͤkſeligkei- ten, die ich wuͤnſchte, und uͤber welche hinaus ich keine andere kannte. Jch hatte ihr etwas von den Eindruͤken geſagt, die ihr erſter Anblik auf mein Herz gemacht hatte; und ſie hatte dieſe Eroͤffnungen mit dem Ge- ſtaͤndniß der vorzuͤglichen Meynung, welche ihr das all- gemeine Urtheil zu Delphi von mir gegeben haͤtte, er- wiedert; aber meine zaͤrtliche und ehrfurchtsvolle Schuͤch- ternheit erlaubte mir nicht, ihr alles zu ſagen, was mein Herz fuͤr ſie empfand. Meine Ausdruͤke waren lebhaft und feuerig; aber ſie hatten mit der gewoͤhnli- chen Sprache der Liebe ſo wenig aͤhnliches, daß ich weniger zu ſagen glaubte, indem ich in der That unend- lich mal mehr ſagte, als ein gewoͤhnlicher Liebhaber, der mehr von ſeinen Begierden beunruhigt, als von dem Werthe ſeiner Geliebten geruͤhrt iſt. Allein da wir

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/322>, abgerufen am 24.11.2024.