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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, viertes Capitel.
merung einer so lauen Sommer-Nacht, sehr übel ange-
bracht gewesen wären; aber bey der gefühlvollen Psy-
che rührten sie die empfindlichsten Sayten ihres Herzens.
Das Gespräch, worinn wir uns unvermerkt verwikel-
ten, entdekte eine Uebereinstimmung in unserm Ge-
schmak und in unsern Neigungen, welche gar bald ein
eben so freundschaftliches und vertrauliches Verständniß
zwischen unsern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns
schon viele Jahre geliebet hätten. Mir war, als ob
ich alles, was sie sagte, durch eine unmittelbare An-
schauung in ihrer Seele lese; und hinwieder schien das,
was ich sagte, so abgezogen, idealisch und dichterisch,
es immer seyn mochte, ein blosser Wiederhall oder die
Entwiklung ihrer eigenen Empfindungen und solcher Jdeen
zu seyn, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen,
und nur den erwärmenden Einfluß eines geübtern Gei-
stes nöthig hatten, um sich zu entfalten, und durch
ihre naive Schönheit die erhabensten und sinnreichsten
Gedanken der Weisen zu beschämen. Die Zeit wurde
uns bey dieser Unterhaltung so kurz, daß wir kaum
eine Stunde bey einander gewesen zu seyn glaubten,
als uns die aufgehende Morgenröthe erinnerte, daß wir
uns trennen mußten. Jch hatte durch diese Unterre-
dung erfahren, daß meine Geliebte von ihrer Herkunft
eben so wenig wisse, als ich von der meinigen; daß sie
von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins
sechste Jahr erzogen, hernach aber von Räubern ent-
führt, und an die Priesterin zu Delphi yerkauft wor-
den, welche sie in allen weiblichen Künsten, und da sie

eine

Siebentes Buch, viertes Capitel.
merung einer ſo lauen Sommer-Nacht, ſehr uͤbel ange-
bracht geweſen waͤren; aber bey der gefuͤhlvollen Pſy-
che ruͤhrten ſie die empfindlichſten Sayten ihres Herzens.
Das Geſpraͤch, worinn wir uns unvermerkt verwikel-
ten, entdekte eine Uebereinſtimmung in unſerm Ge-
ſchmak und in unſern Neigungen, welche gar bald ein
eben ſo freundſchaftliches und vertrauliches Verſtaͤndniß
zwiſchen unſern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns
ſchon viele Jahre geliebet haͤtten. Mir war, als ob
ich alles, was ſie ſagte, durch eine unmittelbare An-
ſchauung in ihrer Seele leſe; und hinwieder ſchien das,
was ich ſagte, ſo abgezogen, idealiſch und dichteriſch,
es immer ſeyn mochte, ein bloſſer Wiederhall oder die
Entwiklung ihrer eigenen Empfindungen und ſolcher Jdeen
zu ſeyn, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen,
und nur den erwaͤrmenden Einfluß eines geuͤbtern Gei-
ſtes noͤthig hatten, um ſich zu entfalten, und durch
ihre naive Schoͤnheit die erhabenſten und ſinnreichſten
Gedanken der Weiſen zu beſchaͤmen. Die Zeit wurde
uns bey dieſer Unterhaltung ſo kurz, daß wir kaum
eine Stunde bey einander geweſen zu ſeyn glaubten,
als uns die aufgehende Morgenroͤthe erinnerte, daß wir
uns trennen mußten. Jch hatte durch dieſe Unterre-
dung erfahren, daß meine Geliebte von ihrer Herkunft
eben ſo wenig wiſſe, als ich von der meinigen; daß ſie
von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins
ſechste Jahr erzogen, hernach aber von Raͤubern ent-
fuͤhrt, und an die Prieſterin zu Delphi yerkauft wor-
den, welche ſie in allen weiblichen Kuͤnſten, und da ſie

eine
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[299/0321] Siebentes Buch, viertes Capitel. merung einer ſo lauen Sommer-Nacht, ſehr uͤbel ange- bracht geweſen waͤren; aber bey der gefuͤhlvollen Pſy- che ruͤhrten ſie die empfindlichſten Sayten ihres Herzens. Das Geſpraͤch, worinn wir uns unvermerkt verwikel- ten, entdekte eine Uebereinſtimmung in unſerm Ge- ſchmak und in unſern Neigungen, welche gar bald ein eben ſo freundſchaftliches und vertrauliches Verſtaͤndniß zwiſchen unſern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns ſchon viele Jahre geliebet haͤtten. Mir war, als ob ich alles, was ſie ſagte, durch eine unmittelbare An- ſchauung in ihrer Seele leſe; und hinwieder ſchien das, was ich ſagte, ſo abgezogen, idealiſch und dichteriſch, es immer ſeyn mochte, ein bloſſer Wiederhall oder die Entwiklung ihrer eigenen Empfindungen und ſolcher Jdeen zu ſeyn, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur den erwaͤrmenden Einfluß eines geuͤbtern Gei- ſtes noͤthig hatten, um ſich zu entfalten, und durch ihre naive Schoͤnheit die erhabenſten und ſinnreichſten Gedanken der Weiſen zu beſchaͤmen. Die Zeit wurde uns bey dieſer Unterhaltung ſo kurz, daß wir kaum eine Stunde bey einander geweſen zu ſeyn glaubten, als uns die aufgehende Morgenroͤthe erinnerte, daß wir uns trennen mußten. Jch hatte durch dieſe Unterre- dung erfahren, daß meine Geliebte von ihrer Herkunft eben ſo wenig wiſſe, als ich von der meinigen; daß ſie von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins ſechste Jahr erzogen, hernach aber von Raͤubern ent- fuͤhrt, und an die Prieſterin zu Delphi yerkauft wor- den, welche ſie in allen weiblichen Kuͤnſten, und da ſie eine

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/321>, abgerufen am 24.11.2024.