Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Buch, viertes Capitel.
wir uns scheiden mußten, würde mich mein allzuvolles
Herz verrathen haben, wenn die unerfahrne Jugend
der guten Psyche ihr erlaubt hätte, einiges Mißtrauen
in Empfindungen zu sezen, welche sie nach der Unschuld
ihrer eigenen beurtheilte. Jch zerfloß in Thränen, und
sezte ihr auf eine so zärtliche, so bewegliche Art zu,
mir zu versprechen, sich in der folgenden Nacht wieder
in dieser Gegend finden zu lassen, daß es ihr unmög-
lich war, mich ungetröstet wegzuschiken. Wir sezten
also, da uns alle Gelegenheit, uns bey Tage zu spre-
chen, abgeschnitten war, diese nächtliche Zusammenkünfte
fort; und unsere Liebe wuchß und verschönerte sich zu-
sehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe sey. Wir
nannten es Freundschaft; und genossen ihrer reinsten
Süssigkeiten, ohne durch einige Besorgnisse, Bedenklich-
keiten oder andre Symptome der Leidenschaft, beunru-
higt zu werden. Psyche hatte sich eine Freundin, wie
ich mir einen Freund, gewünscht; nun glaubten
wir beyde gefunden zu haben, was wir wünschten.
Unsere Denkungs-Art, und die Güte unserer Herzen,
flößte uns ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen
gegen einander ein. -- Meine Augen, welche schon
lange gewöhnt waren, anders zu sehen, als man sonst
in meinen damaligen Jahren zu sehen pflegt, sahen in
Psyche kein reizendes Mädchen, sondern die schönste,
die liebenswürdigste der Seelen, deren geistige Reizun-
gen aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen Gewan-
des hervorschimmerten; und die wissensbegierige Psyche,
welche nie glüklicher war, als wenn ich ihr die erhabe-

nen

Siebentes Buch, viertes Capitel.
wir uns ſcheiden mußten, wuͤrde mich mein allzuvolles
Herz verrathen haben, wenn die unerfahrne Jugend
der guten Pſyche ihr erlaubt haͤtte, einiges Mißtrauen
in Empfindungen zu ſezen, welche ſie nach der Unſchuld
ihrer eigenen beurtheilte. Jch zerfloß in Thraͤnen, und
ſezte ihr auf eine ſo zaͤrtliche, ſo bewegliche Art zu,
mir zu verſprechen, ſich in der folgenden Nacht wieder
in dieſer Gegend finden zu laſſen, daß es ihr unmoͤg-
lich war, mich ungetroͤſtet wegzuſchiken. Wir ſezten
alſo, da uns alle Gelegenheit, uns bey Tage zu ſpre-
chen, abgeſchnitten war, dieſe naͤchtliche Zuſammenkuͤnfte
fort; und unſere Liebe wuchß und verſchoͤnerte ſich zu-
ſehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe ſey. Wir
nannten es Freundſchaft; und genoſſen ihrer reinſten
Suͤſſigkeiten, ohne durch einige Beſorgniſſe, Bedenklich-
keiten oder andre Symptome der Leidenſchaft, beunru-
higt zu werden. Pſyche hatte ſich eine Freundin, wie
ich mir einen Freund, gewuͤnſcht; nun glaubten
wir beyde gefunden zu haben, was wir wuͤnſchten.
Unſere Denkungs-Art, und die Guͤte unſerer Herzen,
floͤßte uns ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen
gegen einander ein. — Meine Augen, welche ſchon
lange gewoͤhnt waren, anders zu ſehen, als man ſonſt
in meinen damaligen Jahren zu ſehen pflegt, ſahen in
Pſyche kein reizendes Maͤdchen, ſondern die ſchoͤnſte,
die liebenswuͤrdigſte der Seelen, deren geiſtige Reizun-
gen aus dem durchſichtigen Flor eines irdiſchen Gewan-
des hervorſchimmerten; und die wiſſensbegierige Pſyche,
welche nie gluͤklicher war, als wenn ich ihr die erhabe-

nen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0323" n="301"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Siebentes Buch, viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
wir uns &#x017F;cheiden mußten, wu&#x0364;rde mich mein allzuvolles<lb/>
Herz verrathen haben, wenn die unerfahrne Jugend<lb/>
der guten P&#x017F;yche ihr erlaubt ha&#x0364;tte, einiges Mißtrauen<lb/>
in Empfindungen zu &#x017F;ezen, welche &#x017F;ie nach der Un&#x017F;chuld<lb/>
ihrer eigenen beurtheilte. Jch zerfloß in Thra&#x0364;nen, und<lb/>
&#x017F;ezte ihr auf eine &#x017F;o za&#x0364;rtliche, &#x017F;o bewegliche Art zu,<lb/>
mir zu ver&#x017F;prechen, &#x017F;ich in der folgenden Nacht wieder<lb/>
in die&#x017F;er Gegend finden zu la&#x017F;&#x017F;en, daß es ihr unmo&#x0364;g-<lb/>
lich war, mich ungetro&#x0364;&#x017F;tet wegzu&#x017F;chiken. Wir &#x017F;ezten<lb/>
al&#x017F;o, da uns alle Gelegenheit, uns bey Tage zu &#x017F;pre-<lb/>
chen, abge&#x017F;chnitten war, die&#x017F;e na&#x0364;chtliche Zu&#x017F;ammenku&#x0364;nfte<lb/>
fort; und un&#x017F;ere Liebe wuchß und ver&#x017F;cho&#x0364;nerte &#x017F;ich zu-<lb/>
&#x017F;ehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe &#x017F;ey. Wir<lb/>
nannten es Freund&#x017F;chaft; und geno&#x017F;&#x017F;en ihrer rein&#x017F;ten<lb/>
Su&#x0364;&#x017F;&#x017F;igkeiten, ohne durch einige Be&#x017F;orgni&#x017F;&#x017F;e, Bedenklich-<lb/>
keiten oder andre Symptome der Leiden&#x017F;chaft, beunru-<lb/>
higt zu werden. P&#x017F;yche hatte &#x017F;ich eine Freundin, wie<lb/>
ich mir einen Freund, gewu&#x0364;n&#x017F;cht; nun glaubten<lb/>
wir beyde gefunden zu haben, was wir wu&#x0364;n&#x017F;chten.<lb/>
Un&#x017F;ere Denkungs-Art, und die Gu&#x0364;te un&#x017F;erer Herzen,<lb/>
flo&#x0364;ßte uns ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen<lb/>
gegen einander ein. &#x2014; Meine Augen, welche &#x017F;chon<lb/>
lange gewo&#x0364;hnt waren, anders zu &#x017F;ehen, als man &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
in meinen damaligen Jahren zu &#x017F;ehen pflegt, &#x017F;ahen in<lb/>
P&#x017F;yche kein reizendes Ma&#x0364;dchen, &#x017F;ondern die &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te,<lb/>
die liebenswu&#x0364;rdig&#x017F;te der Seelen, deren gei&#x017F;tige Reizun-<lb/>
gen aus dem durch&#x017F;ichtigen Flor eines irdi&#x017F;chen Gewan-<lb/>
des hervor&#x017F;chimmerten; und die wi&#x017F;&#x017F;ensbegierige P&#x017F;yche,<lb/>
welche nie glu&#x0364;klicher war, als wenn ich ihr die erhabe-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301/0323] Siebentes Buch, viertes Capitel. wir uns ſcheiden mußten, wuͤrde mich mein allzuvolles Herz verrathen haben, wenn die unerfahrne Jugend der guten Pſyche ihr erlaubt haͤtte, einiges Mißtrauen in Empfindungen zu ſezen, welche ſie nach der Unſchuld ihrer eigenen beurtheilte. Jch zerfloß in Thraͤnen, und ſezte ihr auf eine ſo zaͤrtliche, ſo bewegliche Art zu, mir zu verſprechen, ſich in der folgenden Nacht wieder in dieſer Gegend finden zu laſſen, daß es ihr unmoͤg- lich war, mich ungetroͤſtet wegzuſchiken. Wir ſezten alſo, da uns alle Gelegenheit, uns bey Tage zu ſpre- chen, abgeſchnitten war, dieſe naͤchtliche Zuſammenkuͤnfte fort; und unſere Liebe wuchß und verſchoͤnerte ſich zu- ſehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe ſey. Wir nannten es Freundſchaft; und genoſſen ihrer reinſten Suͤſſigkeiten, ohne durch einige Beſorgniſſe, Bedenklich- keiten oder andre Symptome der Leidenſchaft, beunru- higt zu werden. Pſyche hatte ſich eine Freundin, wie ich mir einen Freund, gewuͤnſcht; nun glaubten wir beyde gefunden zu haben, was wir wuͤnſchten. Unſere Denkungs-Art, und die Guͤte unſerer Herzen, floͤßte uns ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen gegen einander ein. — Meine Augen, welche ſchon lange gewoͤhnt waren, anders zu ſehen, als man ſonſt in meinen damaligen Jahren zu ſehen pflegt, ſahen in Pſyche kein reizendes Maͤdchen, ſondern die ſchoͤnſte, die liebenswuͤrdigſte der Seelen, deren geiſtige Reizun- gen aus dem durchſichtigen Flor eines irdiſchen Gewan- des hervorſchimmerten; und die wiſſensbegierige Pſyche, welche nie gluͤklicher war, als wenn ich ihr die erhabe- nen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/323
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/323>, abgerufen am 24.11.2024.