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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
zu einer mißtrauischen Beobachtung meines Betragens
veranlassen können. Jch verschloß also mein Verlangen
in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld, bis ir-
gend ein meiner Liebe günstiger Schuz-Geist mir zu die-
ser gewünschten Entdekung verhelfen würde. Nach ei-
nigen Tagen fügte es sich, daß ich meiner geliebten Un-
bekannten in einem der Vorhöfe des Tempels begegnete.
Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt
mich in eben dem Augenblik zurük, da ich auf sie zu-
eilen und meine Entzükung über diesen unverhoften
Anblik in Gebehrden, und vielleicht in Ausruffungen,
ausbrechen lassen wollte. Sie blieb, indem sie mich er-
blikte, einige Augenblike stehen, und sah mich an. Jch
glaubte ein plözliches Vergnügen in ihrem schönen Ge-
sicht aufgehen zu sehen; sie erröthete, schlug die Augen
wieder nieder, und eilte davon. Jch durft' es nicht
wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr,
so lang es möglich war; und ich sahe, daß sie zu einer
Thür eingieng, welche in die Wohnung der Priesterin
führte. Jch begab mich in den Hayn, um meinen Ge-
danken über diese angenehme Erscheinung ungestörter
nachzuhängen. Der lezte Umstand, den ich bemerkt
hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf die Ver-
muthung, daß sie vielleicht eine von den Aufwärterin-
nen der Pythia sey, deren diese Dame eine grosse An-
zahl hatte, die aber (ausser bey besondern Feyerlichkei-
ten) selten sichtbar wurden. Diese Entdekung beschäf-
tigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die sie für
mich hatte, als ich, in der That zur ungelegensten Zeit

von

Siebentes Buch, drittes Capitel.
zu einer mißtrauiſchen Beobachtung meines Betragens
veranlaſſen koͤnnen. Jch verſchloß alſo mein Verlangen
in mich ſelbſt, und erwartete mit Ungeduld, bis ir-
gend ein meiner Liebe guͤnſtiger Schuz-Geiſt mir zu die-
ſer gewuͤnſchten Entdekung verhelfen wuͤrde. Nach ei-
nigen Tagen fuͤgte es ſich, daß ich meiner geliebten Un-
bekannten in einem der Vorhoͤfe des Tempels begegnete.
Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt
mich in eben dem Augenblik zuruͤk, da ich auf ſie zu-
eilen und meine Entzuͤkung uͤber dieſen unverhoften
Anblik in Gebehrden, und vielleicht in Ausruffungen,
ausbrechen laſſen wollte. Sie blieb, indem ſie mich er-
blikte, einige Augenblike ſtehen, und ſah mich an. Jch
glaubte ein ploͤzliches Vergnuͤgen in ihrem ſchoͤnen Ge-
ſicht aufgehen zu ſehen; ſie erroͤthete, ſchlug die Augen
wieder nieder, und eilte davon. Jch durft’ es nicht
wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr,
ſo lang es moͤglich war; und ich ſahe, daß ſie zu einer
Thuͤr eingieng, welche in die Wohnung der Prieſterin
fuͤhrte. Jch begab mich in den Hayn, um meinen Ge-
danken uͤber dieſe angenehme Erſcheinung ungeſtoͤrter
nachzuhaͤngen. Der lezte Umſtand, den ich bemerkt
hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf die Ver-
muthung, daß ſie vielleicht eine von den Aufwaͤrterin-
nen der Pythia ſey, deren dieſe Dame eine groſſe An-
zahl hatte, die aber (auſſer bey beſondern Feyerlichkei-
ten) ſelten ſichtbar wurden. Dieſe Entdekung beſchaͤf-
tigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die ſie fuͤr
mich hatte, als ich, in der That zur ungelegenſten Zeit

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[285/0307] Siebentes Buch, drittes Capitel. zu einer mißtrauiſchen Beobachtung meines Betragens veranlaſſen koͤnnen. Jch verſchloß alſo mein Verlangen in mich ſelbſt, und erwartete mit Ungeduld, bis ir- gend ein meiner Liebe guͤnſtiger Schuz-Geiſt mir zu die- ſer gewuͤnſchten Entdekung verhelfen wuͤrde. Nach ei- nigen Tagen fuͤgte es ſich, daß ich meiner geliebten Un- bekannten in einem der Vorhoͤfe des Tempels begegnete. Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in eben dem Augenblik zuruͤk, da ich auf ſie zu- eilen und meine Entzuͤkung uͤber dieſen unverhoften Anblik in Gebehrden, und vielleicht in Ausruffungen, ausbrechen laſſen wollte. Sie blieb, indem ſie mich er- blikte, einige Augenblike ſtehen, und ſah mich an. Jch glaubte ein ploͤzliches Vergnuͤgen in ihrem ſchoͤnen Ge- ſicht aufgehen zu ſehen; ſie erroͤthete, ſchlug die Augen wieder nieder, und eilte davon. Jch durft’ es nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, ſo lang es moͤglich war; und ich ſahe, daß ſie zu einer Thuͤr eingieng, welche in die Wohnung der Prieſterin fuͤhrte. Jch begab mich in den Hayn, um meinen Ge- danken uͤber dieſe angenehme Erſcheinung ungeſtoͤrter nachzuhaͤngen. Der lezte Umſtand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf die Ver- muthung, daß ſie vielleicht eine von den Aufwaͤrterin- nen der Pythia ſey, deren dieſe Dame eine groſſe An- zahl hatte, die aber (auſſer bey beſondern Feyerlichkei- ten) ſelten ſichtbar wurden. Dieſe Entdekung beſchaͤf- tigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die ſie fuͤr mich hatte, als ich, in der That zur ungelegenſten Zeit von

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/307>, abgerufen am 29.09.2024.