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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, drittes Capitel.
hatten alle Kräfte meiner Seele keine andere Beschäfti-
gung, als sich dieses geliebte Bild bis auf die kleinsten
Züge mit allen diesen namenlosen Reizen, -- welche
vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte, --
und mit einer Lebhaftigkeit vorzumahlen, die ihm im-
mer neue Schönheiten lehnte; mein Herz schmükte es
mit allem, was die Natur Anmuthiges hat, mit allen
Vorzügen des Geistes, mit jeder sittlichen Schönheit,
mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Voll-
kommenste und Beste war, aus -- was für ein
Gemählde, wozu die Liebe die Farben giebt! -- Und
doch glaubte ich immer, zu wenig zu thun; und bear-
beitete mich in mir selbst, noch etwas schöners als das
Schönste zu finden, um die Jdee, die ich mir von
meiner Unbekannten machte, gänzlich zu vollenden, und
gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln. -- Diese
liebenswürdige Person hatte mich zu eben der Zeit, da
ich sie erblikte, wahrgenommen; und es war (wie sie
mir in der Folge entdekte) etwas mit den Regungen
meines Herzens Uebereinstimmendes in dem ihrigen vor-
gegangen. Jch erinnerte mich, (denn wie hätte ich
die kleinste Bewegung, die sie gemacht hatte, vergessen
können?) daß unsre Blike sich mehr als ein mal begeg-
net waren, und daß sie sogleich mit einer Schaam-
Röthe, welche ihr ganzes liebliches Gesicht mit Rosen
überzog, die Augen niedergeschlagen hatte. Jch war
zu unerfahren, und in der That auch zu bescheiden,
aus diesem Umstand etwas besonderes zu meinem Vor-
theil zu schliessen; aber doch erinnerte ich mich desselben

mit

Siebentes Buch, drittes Capitel.
hatten alle Kraͤfte meiner Seele keine andere Beſchaͤfti-
gung, als ſich dieſes geliebte Bild bis auf die kleinſten
Zuͤge mit allen dieſen namenloſen Reizen, — welche
vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte, —
und mit einer Lebhaftigkeit vorzumahlen, die ihm im-
mer neue Schoͤnheiten lehnte; mein Herz ſchmuͤkte es
mit allem, was die Natur Anmuthiges hat, mit allen
Vorzuͤgen des Geiſtes, mit jeder ſittlichen Schoͤnheit,
mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Voll-
kommenſte und Beſte war, aus — was fuͤr ein
Gemaͤhlde, wozu die Liebe die Farben giebt! — Und
doch glaubte ich immer, zu wenig zu thun; und bear-
beitete mich in mir ſelbſt, noch etwas ſchoͤners als das
Schoͤnſte zu finden, um die Jdee, die ich mir von
meiner Unbekannten machte, gaͤnzlich zu vollenden, und
gleichſam in das Urbild ſelbſt zu verwandeln. — Dieſe
liebenswuͤrdige Perſon hatte mich zu eben der Zeit, da
ich ſie erblikte, wahrgenommen; und es war (wie ſie
mir in der Folge entdekte) etwas mit den Regungen
meines Herzens Uebereinſtimmendes in dem ihrigen vor-
gegangen. Jch erinnerte mich, (denn wie haͤtte ich
die kleinſte Bewegung, die ſie gemacht hatte, vergeſſen
koͤnnen?) daß unſre Blike ſich mehr als ein mal begeg-
net waren, und daß ſie ſogleich mit einer Schaam-
Roͤthe, welche ihr ganzes liebliches Geſicht mit Roſen
uͤberzog, die Augen niedergeſchlagen hatte. Jch war
zu unerfahren, und in der That auch zu beſcheiden,
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theil zu ſchlieſſen; aber doch erinnerte ich mich deſſelben

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[283/0305] Siebentes Buch, drittes Capitel. hatten alle Kraͤfte meiner Seele keine andere Beſchaͤfti- gung, als ſich dieſes geliebte Bild bis auf die kleinſten Zuͤge mit allen dieſen namenloſen Reizen, — welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt hatte, — und mit einer Lebhaftigkeit vorzumahlen, die ihm im- mer neue Schoͤnheiten lehnte; mein Herz ſchmuͤkte es mit allem, was die Natur Anmuthiges hat, mit allen Vorzuͤgen des Geiſtes, mit jeder ſittlichen Schoͤnheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Voll- kommenſte und Beſte war, aus — was fuͤr ein Gemaͤhlde, wozu die Liebe die Farben giebt! — Und doch glaubte ich immer, zu wenig zu thun; und bear- beitete mich in mir ſelbſt, noch etwas ſchoͤners als das Schoͤnſte zu finden, um die Jdee, die ich mir von meiner Unbekannten machte, gaͤnzlich zu vollenden, und gleichſam in das Urbild ſelbſt zu verwandeln. — Dieſe liebenswuͤrdige Perſon hatte mich zu eben der Zeit, da ich ſie erblikte, wahrgenommen; und es war (wie ſie mir in der Folge entdekte) etwas mit den Regungen meines Herzens Uebereinſtimmendes in dem ihrigen vor- gegangen. Jch erinnerte mich, (denn wie haͤtte ich die kleinſte Bewegung, die ſie gemacht hatte, vergeſſen koͤnnen?) daß unſre Blike ſich mehr als ein mal begeg- net waren, und daß ſie ſogleich mit einer Schaam- Roͤthe, welche ihr ganzes liebliches Geſicht mit Roſen uͤberzog, die Augen niedergeſchlagen hatte. Jch war zu unerfahren, und in der That auch zu beſcheiden, aus dieſem Umſtand etwas beſonderes zu meinem Vor- theil zu ſchlieſſen; aber doch erinnerte ich mich deſſelben mit

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/305>, abgerufen am 29.09.2024.