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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
(und dieses ist in Absicht der Würkung allemal eins)
daß nichts liebenswürdigers als dieses junge Mädchen
seyn könne, ohne daß ich daran gedachte, sie mit den
übrigen zu vergleichen; sie löschte alles andre aus mei-
nen Augen aus. So (dacht ich) müßte die Unschuld
aussehen, wenn sie, unsichtbar zu werden, die Gestalt
einer Grazie entlehnte; so rührend würden ihre Gesichts-
Züge seyn; so still-heiter würden ihre Augen; so hold-
selig ihre Wangen lächeln; so würden ihre Blike, so
ihr Gang, so jede ihrer Bewegungen seyn. Dieser
Augenblik brachte in meiner Seele eine Veränderung
hervor, welche mir, da ich in der Folge fähig wurde,
über meinen Zustand zu denken, dem Uebergang in
eine neue und vollkommnere Art des Daseyns gleich zu
seyn schien. Aber damals war ich zu stark gerührt,
zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir mei-
ner selbst recht bewußt zu seyn. Meine Entzükung gieng
so weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp des Fe-
stes bemerkte; und erst, nachdem alles gänzlich aus mei-
nen Augen verschwunden war, ward ich, wie durch
einen plözlichen Schlag, wieder zu mir selbst gebracht.
Jzt hatte ich Mühe, mich zu überzeugen, daß ich nicht
aus einem von den Träumen erwacht sey, worinn
meine Phantasie, in überirrdische Sphären verzükt,
mir zuweilen ähnliche Gestalten vorgestellt hatte. Der
Schmerz, eines so süssen Anbliks beraubt zu seyn,
konnte das vollkommene Vergnügen nicht schwächen,
womit das Jnnerste meines Wesens erfüllt war. Sel-
bigen ganzen Abend, und den grössesten Theil der Nacht,

hatten

Agathon.
(und dieſes iſt in Abſicht der Wuͤrkung allemal eins)
daß nichts liebenswuͤrdigers als dieſes junge Maͤdchen
ſeyn koͤnne, ohne daß ich daran gedachte, ſie mit den
uͤbrigen zu vergleichen; ſie loͤſchte alles andre aus mei-
nen Augen aus. So (dacht ich) muͤßte die Unſchuld
ausſehen, wenn ſie, unſichtbar zu werden, die Geſtalt
einer Grazie entlehnte; ſo ruͤhrend wuͤrden ihre Geſichts-
Zuͤge ſeyn; ſo ſtill-heiter wuͤrden ihre Augen; ſo hold-
ſelig ihre Wangen laͤcheln; ſo wuͤrden ihre Blike, ſo
ihr Gang, ſo jede ihrer Bewegungen ſeyn. Dieſer
Augenblik brachte in meiner Seele eine Veraͤnderung
hervor, welche mir, da ich in der Folge faͤhig wurde,
uͤber meinen Zuſtand zu denken, dem Uebergang in
eine neue und vollkommnere Art des Daſeyns gleich zu
ſeyn ſchien. Aber damals war ich zu ſtark geruͤhrt,
zu ſehr von Empfindungen verſchlungen, um mir mei-
ner ſelbſt recht bewußt zu ſeyn. Meine Entzuͤkung gieng
ſo weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp des Fe-
ſtes bemerkte; und erſt, nachdem alles gaͤnzlich aus mei-
nen Augen verſchwunden war, ward ich, wie durch
einen ploͤzlichen Schlag, wieder zu mir ſelbſt gebracht.
Jzt hatte ich Muͤhe, mich zu uͤberzeugen, daß ich nicht
aus einem von den Traͤumen erwacht ſey, worinn
meine Phantaſie, in uͤberirrdiſche Sphaͤren verzuͤkt,
mir zuweilen aͤhnliche Geſtalten vorgeſtellt hatte. Der
Schmerz, eines ſo ſuͤſſen Anbliks beraubt zu ſeyn,
konnte das vollkommene Vergnuͤgen nicht ſchwaͤchen,
womit das Jnnerſte meines Weſens erfuͤllt war. Sel-
bigen ganzen Abend, und den groͤſſeſten Theil der Nacht,

hatten
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[282/0304] Agathon. (und dieſes iſt in Abſicht der Wuͤrkung allemal eins) daß nichts liebenswuͤrdigers als dieſes junge Maͤdchen ſeyn koͤnne, ohne daß ich daran gedachte, ſie mit den uͤbrigen zu vergleichen; ſie loͤſchte alles andre aus mei- nen Augen aus. So (dacht ich) muͤßte die Unſchuld ausſehen, wenn ſie, unſichtbar zu werden, die Geſtalt einer Grazie entlehnte; ſo ruͤhrend wuͤrden ihre Geſichts- Zuͤge ſeyn; ſo ſtill-heiter wuͤrden ihre Augen; ſo hold- ſelig ihre Wangen laͤcheln; ſo wuͤrden ihre Blike, ſo ihr Gang, ſo jede ihrer Bewegungen ſeyn. Dieſer Augenblik brachte in meiner Seele eine Veraͤnderung hervor, welche mir, da ich in der Folge faͤhig wurde, uͤber meinen Zuſtand zu denken, dem Uebergang in eine neue und vollkommnere Art des Daſeyns gleich zu ſeyn ſchien. Aber damals war ich zu ſtark geruͤhrt, zu ſehr von Empfindungen verſchlungen, um mir mei- ner ſelbſt recht bewußt zu ſeyn. Meine Entzuͤkung gieng ſo weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp des Fe- ſtes bemerkte; und erſt, nachdem alles gaͤnzlich aus mei- nen Augen verſchwunden war, ward ich, wie durch einen ploͤzlichen Schlag, wieder zu mir ſelbſt gebracht. Jzt hatte ich Muͤhe, mich zu uͤberzeugen, daß ich nicht aus einem von den Traͤumen erwacht ſey, worinn meine Phantaſie, in uͤberirrdiſche Sphaͤren verzuͤkt, mir zuweilen aͤhnliche Geſtalten vorgeſtellt hatte. Der Schmerz, eines ſo ſuͤſſen Anbliks beraubt zu ſeyn, konnte das vollkommene Vergnuͤgen nicht ſchwaͤchen, womit das Jnnerſte meines Weſens erfuͤllt war. Sel- bigen ganzen Abend, und den groͤſſeſten Theil der Nacht, hatten

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/304>, abgerufen am 24.11.2024.