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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Siebentes Buch, zweytes Capitel.

So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die
Kräfte der Einbildung dasjenige weit übersteigen, was
die Natur unsern Sinnen darstellt: Sie hat etwas glän-
zenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die süsse-
sten Düfte des Frühlings zu ihren Diensten, unsre in-
nern Sinnen in Entzükung zu sezen; sie hat neue Ge-
stalten, höhere Farben, vollkommnere Schönheiten,
schnellere Veranstaltungen, eine neue Verknüpfung der
Ursachen und Würkungen, eine andere Zeit -- kurz,
sie verschaft eine neue Natur, und versezt uns in der
That in fremde Welten, welche nach ganz andern Ge-
sezen als die unsrige regiert werden. Jn unsrer ersten
Jugend sind wir noch zu unbekannt mit den Triebfedern
unsers eignen Wesens, um deutlich einzusehen, wie
sehr diese scheinbare Magie der Einbildungskraft in der
That natürlich ist. Wenigstens war ich damals leicht-
gläubig genug, Träume von dieser Art, übernatürlichen
Einflüssen beyzumessen, und sie für Vorboten der Wun-
derdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu
erfahren hofte.

Einsmals, als ich nach der Vorschrift des Theogi-
tons acht Tage lang mit geheimen Ceremonien und
Weyhungen, und in einer unabläßigen Anstrengung
mein Gemüth von allen äusserlichen Gegenständen ab-
zuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr berech-
tiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir bis-
her begegnet war, begab ich mich in später Nacht, da
alles schlief, in die Grotte der Nymphen, und nach-

dem
Siebentes Buch, zweytes Capitel.

So ſeltſam es klingt, ſo gewiß iſt es doch, daß die
Kraͤfte der Einbildung dasjenige weit uͤberſteigen, was
die Natur unſern Sinnen darſtellt: Sie hat etwas glaͤn-
zenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die ſuͤſſe-
ſten Duͤfte des Fruͤhlings zu ihren Dienſten, unſre in-
nern Sinnen in Entzuͤkung zu ſezen; ſie hat neue Ge-
ſtalten, hoͤhere Farben, vollkommnere Schoͤnheiten,
ſchnellere Veranſtaltungen, eine neue Verknuͤpfung der
Urſachen und Wuͤrkungen, eine andere Zeit — kurz,
ſie verſchaft eine neue Natur, und verſezt uns in der
That in fremde Welten, welche nach ganz andern Ge-
ſezen als die unſrige regiert werden. Jn unſrer erſten
Jugend ſind wir noch zu unbekannt mit den Triebfedern
unſers eignen Weſens, um deutlich einzuſehen, wie
ſehr dieſe ſcheinbare Magie der Einbildungskraft in der
That natuͤrlich iſt. Wenigſtens war ich damals leicht-
glaͤubig genug, Traͤume von dieſer Art, uͤbernatuͤrlichen
Einfluͤſſen beyzumeſſen, und ſie fuͤr Vorboten der Wun-
derdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu
erfahren hofte.

Einsmals, als ich nach der Vorſchrift des Theogi-
tons acht Tage lang mit geheimen Ceremonien und
Weyhungen, und in einer unablaͤßigen Anſtrengung
mein Gemuͤth von allen aͤuſſerlichen Gegenſtaͤnden ab-
zuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr berech-
tiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir bis-
her begegnet war, begab ich mich in ſpaͤter Nacht, da
alles ſchlief, in die Grotte der Nymphen, und nach-

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[269/0291] Siebentes Buch, zweytes Capitel. So ſeltſam es klingt, ſo gewiß iſt es doch, daß die Kraͤfte der Einbildung dasjenige weit uͤberſteigen, was die Natur unſern Sinnen darſtellt: Sie hat etwas glaͤn- zenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die ſuͤſſe- ſten Duͤfte des Fruͤhlings zu ihren Dienſten, unſre in- nern Sinnen in Entzuͤkung zu ſezen; ſie hat neue Ge- ſtalten, hoͤhere Farben, vollkommnere Schoͤnheiten, ſchnellere Veranſtaltungen, eine neue Verknuͤpfung der Urſachen und Wuͤrkungen, eine andere Zeit — kurz, ſie verſchaft eine neue Natur, und verſezt uns in der That in fremde Welten, welche nach ganz andern Ge- ſezen als die unſrige regiert werden. Jn unſrer erſten Jugend ſind wir noch zu unbekannt mit den Triebfedern unſers eignen Weſens, um deutlich einzuſehen, wie ſehr dieſe ſcheinbare Magie der Einbildungskraft in der That natuͤrlich iſt. Wenigſtens war ich damals leicht- glaͤubig genug, Traͤume von dieſer Art, uͤbernatuͤrlichen Einfluͤſſen beyzumeſſen, und ſie fuͤr Vorboten der Wun- derdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hofte. Einsmals, als ich nach der Vorſchrift des Theogi- tons acht Tage lang mit geheimen Ceremonien und Weyhungen, und in einer unablaͤßigen Anſtrengung mein Gemuͤth von allen aͤuſſerlichen Gegenſtaͤnden ab- zuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr berech- tiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir bis- her begegnet war, begab ich mich in ſpaͤter Nacht, da alles ſchlief, in die Grotte der Nymphen, und nach- dem

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/291>, abgerufen am 24.11.2024.